Die visuelle Konstruktion des Dorfverschwindens in Yavuz Turguls Eskiya (1996)

 

Während der aus der Haft entlassene und nun gealterte Bandit Baran mit Turban über die südostanatolischen Hügel Richtung Heimatdorf geht, zeichnet sich hinter ihm in türkiser Farbe ein Gewässer als See ab (Abb. 1), an dessen Ufer schließlich nur noch steinerne Umrisse Indizes jenes Dorfs abgeben, in dem er zuvor lebte und das im entstandenen See nun untergegangen ist (Abb. 2). Das Gespräch mit der einzig verbliebenen Dorfältesten offenbart nicht nur die Gründe für das Verschwinden des Dorfs (Abb. 3), sondern auch ihre ‚natürliche‘ Weltsicht, wenn sie davon spricht, dass nicht „der Wolf und der Vogel“ die Feinde sind, denen sie sich zum Fraß überantwortet, wenn sie alleine im Dorf verbleibt, sondern die Menschen, die das Dorf verlassen haben. Doch es wäre zu einfach, diese über die Figur selbst vermittelte Begründung als eine hinreichende hinzunehmen, bleibt die Spannung von Natur (Dorf verzehrendes Wasser und doch harmlose Tiere) und Mensch (der Mensch ist böse) widersinnig und in der Bildsprache des Films, die zwischen Urbanität und Ruralität allenfalls prozessual trennt (vgl. Helbrecht 2013, S. 168ff), erhalten. Die filmische Erzählung vom Verschwinden des Dorfs, die der Vortrag filmanalytisch aufarbeitet, geht nicht mit einem Verschwinden des Dorfmotivs im Film einher. Mit der Verlagerung des Filmgeschehens vom Dorf in die Großstadt Istanbuls, auf dessen Dächern sich der Bergbandit Baran so wohlfühlt „wie auf den Spitzen der Berge Cudis“ (Abb. 4), lebt das Dorf in visuellen Analogien und Allusionen des Films weiter, als Zeit-Bild (vgl. Fahle 2002; Deleuze 1996), in dem die Vergangenheit des Dorfs sich in den Bildern und damit auch visuellen metaphorischen Verschiebungen erhält.
Es ist dieser Beginn in Yavuz Turguls „Eşkiya“ (dt. „Bandit“), der den Handlungsraum (Kappelhoff 2012) des Films von den anatolischen Bergen ins städtische Istanbul verlagert. Im Hinblick auf das wirkmächtige Genre des Dorffilms, das in den 30 Jahren vor Entstehung von Eşkiya die türkischen Kinoräume heimsuchte (Scognamillo 1977, Velioğlu 2008), indiziert sich mit der Repräsentation des Verschwinden des Dorfs in diesem Film aus den 1990ern gleichzeitig die Transformation des türkischen Kinos in urbanere Genres. Der medienkulturwissenschaftliche Vortrag zeichnet die filmästhetischen Verfahren und Diskurse nach, mit denen das Dorfverschwinden im Film konstruiert wird, um darüber das Gefüge von Natur, Mensch, Ruralität und Urbanität zu perspektivieren, das der Film im Hinblick auf jenes Verschwinden verhandelt und das vielleicht erklären mag, weshalb „Eşkıya“ im filmhistorischen Diskurs über das türkische Kino nach wie vor als Film verhandelt wird, der es aus seiner Krise befreite (vgl. Behlil 2010; Dorsay 2004).