"Geschichte ins Dorf schreiben" – Strukturwandel, Dorfgemeinschaft und Raum in Ortschroniken und Heimatbüchern der Bundesrepublik Deutschland

 

Seit den späten 1970er haben „Dorfchroniken“ in Deutschland einen bis heute anhaltenden Boom zu verzeichnen. Sie werden gewöhnlich von Arbeitsgruppen örtlicher „Altbürger“ ohne besondere literarische oder akademische Erfahrung verfasst und richten sich primär an andere Einwohner des jeweiligen Ortes. Heutzutage haben nahezu alle Gemeinden der BRD, auch die kleinsten Orte mit deutlich unter 1.000 Einwohnern, eine Ortschronik vorzuweisen. Sprechen diese Bücher im Einzelnen bewusst nur einen kleinen Leserkreis an, haben wir es in der Summe mit einem erinnerungskulturellen Massenphänomen zu tun; mit einem Genre, das ganz eigene Wahrnehmungs- und Darstellungsweisen von Geschichte aufweist, die sich über alle Regionen hinweg erstaunlich gleichen und die sich deutlich von der wissenschaftlichen Lokalgeschichte unterscheiden. Im Mittelpunkt des Genres steht zum einen eine scharfe Dorf-Umwelt-Differenz, die zwischen einer vermeintlich unpolitischen, auf Existenzielles beschränkten Dorfgeschichte und einer substantiell von dieser getrennten, wechselhaften allgemeinen bzw. nationalen Geschichte unterscheidet. Zum anderen kommt dieser historisch abgrenzbare dörfliche Raum mit den Grenzen einer überzeitlichen, im Kern unveränderten Dorfgemeinschaft zur Deckung. Ortschroniken konstruieren eine (gewissermaßen zeitlose) Dorfgemeinschaft, gekennzeichnet durch quasi-natürliche Arbeitsteilung, bei der die Beiträge aller Bewohner in organischer Weise ineinandergreifen, durch Leistungs- und Aufopferungsbereitschaft der Einwohner gegenüber dieser Gemeinschaft; durch intensive Austausch- und Kommunikationsverhältnisse sowie durch „Erfahrbarkeit“ und „Durchschaubarkeit“.


Der Dorfgemeinschaft kommt hierbei eine ambivalente, deskriptiv-normative Stellung zu: Einerseits finden Chronikautoren sie in der Vergangenheit vor, andererseits dient sie als normatives Leitbild gegenwärtiger Problemstellungen. Vor allem der Strukturwandel des ländlichen Raumes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe zu gravierenden Auflösungserscheinungen der einst intakten Gemeinschaft gefunden (worauf sich der Vortrag konzentrieren wird). Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Heimatgeschichte suchen Chronikautoren jedoch nicht nach alternativen Idealen, sondern rufen zur Rückbesinnung auf alte Gemeinschaftswerte und -formen auf – ganz gleich, ob die jeweilige Chronik ein Verlust- oder Krisenszenario zeichnet oder ob sie eine Erfolgsgeschichte des wiederholten Triumphs der Gemeinschaft über neuartige gesellschaftliche Herausforderungen beschreibt. Eng damit verzahnt ist die zentrale soziale Funktion von Ortschroniken und Heimatbüchern (worauf der zweite Schwerpunkt des Vortrags liegen wird). Es soll anhand von Beispielen aus dem gesamten Bundesgebiet gezeigt werden, wie Chroniken weniger die Geschichte des Ortes als Geschichte in das Dorf schreiben. Dem Ideal nach versorgt sich eine Dorfgemeinschaft in der Form des Gemeinschaftsprojekts Ortschronik mit ihrer eigenen Geschichte. Das heißt, die dörfliche Lebenswelt, die vorgeblich unter Austauschbarkeit, Identitätsverlust, mangelnder „Durchschau“- und „Erfahrbarkeit“ leidet, soll mit historischer Tiefe aufgeladen werden. Mittels vollständiger Haus- und Hofchroniken, historischen Rundgängen und vielen anderen Instrumenten leiten Ortschroniken dazu an, die Vergangenheit im eigenen Berufs- und Arbeitsalltag sehen zu lernen. Das zentrale Versprechen ist, die dörfliche Lebenswelt angesichts ihrer durch den Strukturwandel hervorgerufenen Identitätskrise wieder mit einer räumlich-sozialen Transparenz bzw. „Handgreiflichkeit“ zu versorgen.