Verlusterfahrungen und erzählerische Erinnerungsarbeit in Gerhard Meiers Ballade vom Schneien

 

„Die wahren Paradiese sind Paradiese, die man verloren hat.“ Dieses Zitat aus Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit stellt der Schweizer Autor Gerhard Meier seinem Roman Die Ballade vom Schneien [1985] voran. Erzählt wird hier (wie in den drei weiteren Romanen der Tetralogie) vom Leben in der Schweizer Provinz, genauer gesagt: von den Erinnerungen an ein fiktives Dorf – Amrain –, das als Ort zwar weiterhin existiert, jedoch nicht mehr ist, wie es war und erinnert wird. Vieles hat sich fortschrittsbedingt verändert. Gebäude, die mit den Menschen, die sie nutzten und bewohnten, gealtert waren, sind verschwunden; wo einst Liegenschaften und Bauernhäuser standen, stehen Wohnquartiere aus Beton. Meiers Tetralogie ist Teil eines in den 70er und 80er Jahren in der Schweiz aufkeimenden Diskurses über die Verbauung und Urbanisierung ruraler Räume als Ursache identitärer Konflikte. Seine Figuren, Baur und Bindschädler, bewegen sich in einer Zeit und einem Raum, zu denen sie sich nicht mehr zugehörig fühlen. Die Handlung ist daher auf ein Minimum reduziert. Sie flüchten gedanklich aus einer als leer empfundenen Gegenwart und begegnen dem Wandel der räumlichen und gesellschaftlichen Ordnung, dem Verlust der dörflichen Gemeinschaft, mit exzessiver Erinnerungsarbeit. „Amrain ist ein Teppich […] mit Motiven“, sagt Baur an einer Stelle, und auch der Romanzyklus, der Fäden der Erinnerung zu einem ästhetischen Ganzen mit einer spezifischen Textur verwebt, ist, wie es im Text heißt, „einem Teppich vergleichbar“. Rückblickend imaginiert Baur ein „wahres“, weil „verlorenes Paradies“, und Bindschädler, der als Ich-Erzähler auftritt, hört ihm zu, kommentiert und bewahrt seine Erinnerungen.
Die Ballade vom Schneien nimmt innerhalb der Tetralogie eine besondere Position ein, denn sie erzählt von Baurs letzter Nacht. Im Spital zu Amrain begleitet Bindschädler Baur, der, schon unter dem Einfluss von Morphium, erzählt, bis er im Morgengrauen stirbt. Es schneit über Amrain, und in Gesprächspausen beobachtet Bindschädler auf dem Balkon des Krankenzimmers den Schneefall. Der Schnee, der die Einebnung räumlicher Strukturen und eine generelle Reduktion des Raumes bewirkt, symbolisiert die Prozesse der Auslöschung und des Verschwindens, von denen auf verschiedenen Ebenen erzählt wird. Das Schneemotiv akzentuiert die Verlusterfahrungen, es steht für die Kurzlebig- und Vergänglichkeit allen Daseins, für die Stille und das Schweigen, in die alles mündliche Erzählen einmündet.
Der geplante Vortrag wird sich mit Gerhard Meiers Tetralogie Baur und Bindschädler beschäftigen, im Besonderen mit dem dritten Roman Die Ballade vom Schneien. Wie lässt sich das Vakuum, dem sich die Figuren ausgesetzt sehen, literarisch darstellen? Mit welchen literarischen Verfahren und rhetorischen Mitteln wird das fiktive Dorf Amrain imaginativ wiederbelebt? Und welche Funktionen übernimmt im Kontext dieser beiden Fragen das Schneemotiv?