Wogen der Flut. Visualität und Materialität chronotopischer Transformationen und ihre erinnerungskulturelle Aufarbeitung in künstlerischer Kriegsfotografie

 

Fotografien, verstanden als Extension und Spur, bilden Chronotopoi – Zeit-Räume, in denen verschiedene zeitliche und örtliche Ebenen ineinanderfließen. Die hierdurch kreierten „Denkräume“ fungieren als Plattform zum Austausch von individuellen und kollektiven Erinnerungsfragmenten. Solche chronotopischen Strukturen finden sich nicht nur in Fotografien, sondern auch in Land- und Ortschaften und prägen ebenso Erinnerungskulturen, wie sie von diesen geprägt werden. Entgegen eines linearen Zeitverständnisses, können Chronotopoi statt eines ausschließlichen Verfalls und Neu-Bespielens der Land- und Ortschaften, Vergangenes zurückbringen und aufdecken. Somit kreieren verschwindende und wieder in Erscheinung tretende Dörfer Leerstellen, die es zu reflektieren gilt.
Am Beispiel der fotografischen Arbeiten Paula Luttringers sollen die zirkulären Transformationen von Zeit und Raum und ihre Visualität und Materialität erörtert werden. Selber eine desaparecida [Verschwundene], verarbeitet sie in ihrem fotografischen Werk individuelle wie auch kollektive Erinnerungen im Hinblick auf die zeitlichen, räumlichen und sozialen Leerstellen infolge der Militärdiktatur Videlas. Neben den gefolterten und ermorderten Verschwundenen, formieren Un-Orte wie die ehemaligen geheimen Gefangenenlager Verschwundenes als integraler Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses. In Luttringers Arbeiten Lignum Mortuum und Entrevero kulminieren die erinnerungskulturellen Inhalte und die Ästhetik der Absenz zu materiellen Artefakten: Das Dorf Villa Epecuen wurde während der Militärdiktatur durch einen Staudammbruch geflutet. 30 Jahre danach weicht heute das Wasser zurück und hinterlässt die Überreste des ehemaligen Kurortes. In der Analyse Luttringers Arbeiten versucht der Vortrag nicht nur die Analogie zu der Geschichte des Guerra Sucia zu ziehen, sondern auch die zeiträumlichen Transformationen und Entwicklungen der nationalen Aufarbeitung in der chronotopischen Struktur der Fotografien zu fassen. Die materiellen Leerstellen in der Landschaft verweisen auf die immateriellen Leerstellen des kollektiven Gedächtnisses. Der Ort des Villa Epecuen wird somit zum Akt einer Präsenz, der ebenso wie Erinnerungskultur interchangierend agiert. Als ein „fließendes Netzwerk“ verstanden, leistet der Nexus aus Un-Ort und Fotografie einen Beitrag zur Reflexion über den erinnerungskulturellen Diskurs Argentiniens.