"Hat Charakter das Dorf, ich meine, trotz des ganzen Verfalls." - Die Wende als Verwandlung in Patrick Hofmanns Roman Die letzte Sau

 

In Patrick Hofmanns Die letzte Sau (2009) stehen Transformationen im Mittelpunkt: Im fiktiven Muckau, südlich von Leipzig zu verorten, steht Familie Schlegel im Dezember 1992 vor der Umsiedlung durch den näherrückenden Tagebau. Das Dorf ist so gut wie ausgestorben, spätestens seit der Wende ist aber die Zukunft des Braunkohleabbaus ungewiss, Grundstücksspekulationen beginnen. Dies ist der Anlass und Hintergrund für ein großes Familientreffen, die eigentliche Erzählung, bei dem das letzte Schwein im Stall geschlachtet und großteils zu Wurst verarbeitet wird. Ich möchte der Neuordnung von Identität nachgehen, die durch des Wegbrechen von gewohnten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten Translozierbarkeit verlangt. Die Wende, das Verschwinden der DDR und des damit verbundenen Werterahmens erhält im Roman eine private, inoffizielle Dimension. Eine ,große‘ Erzählung, Historie ist nicht auszumachen: Vielfältige Aspekte der (geteilten) deutschen Geschichte finden in der multiperspektivischen Erzählung verschiedener Generationen zusammen, jedoch ohne Autorität im Hintergrund. Verwurstet wird nicht nur das Fleisch: Das kulturelle Gedächtnis stabilisierende Kinderbücher, immer wieder in den Text integrierte Notationen unterschiedlicher Lieder, ausgewiesene Zitate (z. B. von Hilbig, Marx oder Himmler), Erinnerungen, in denen die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmt – am Ende bleibt ein Ausleuchten der Ränder ohne Mitte. Denn trotz dieser medialen und perspektivischen Vielfalt bleibt vieles außen vor – Stasi-Vergangenheit, Kriegserlebnisse, Erkrankungen in der Familie. Zudem fließen subversiv magische Elemente durch die ,verzaubernde‘ Schlachterin in das Erzählte ein, die alle Familienmitglieder auf unterschiedliche Weise in ihren Bann schlägt. „[W]enn das Loch so groß is, dass nichts mehr drüberwachsen kann, muss man die Geschichte aufschreiben“, (S. 32) heißt es im Roman mehrdeutig, jedoch scheitern aktive Versuche einzelner Figuren, Erinnerung als kollektive aufzuzeichnen.
Der (Erinnerungs-)Raum in Die letzte Sau wird weniger erzählt, als er aus Praktiken besteht: Identität – und damit eine Auswahl an Erinnerungen – wird nicht fixiert, sondern im Wiederholen von sozial kodierten Ritualen immer wieder neu konstruiert bzw. tradiert; wobei Abänderungen in den Abläufen auf der Tagesordnung stehen. Das Verschwinden des Dorfs zeigt, dass dieses vor allem von den sozialen Interaktionen lebt. Die letzten Einwohner einer seit langem vom eigenen, wortwörtlichen Untergang überzeugten und dadurch sehr zurückgezogenen Dorfgemeinschaft bedeuten ein Verblassen eines speicherlosen Teils des kulturellen Gedächtnisses der DDR. Damit entsteht eine individuelle, auf der eigenen Lebensgeschichte basierende Aneignung des Raums ohne Niederschrift, welche im Fakt der Schlachtung und ihren transformierenden und konservierenden Folgen eine Spiegelung erfährt.