Vom utopischen zum memorialen Chronotopos. Verschwundene Dörfer in der DDR- und Post-DDR-Literatur

 

In meinem gerade im Abschluss befindlichen DFG-Projekt „Chronotopographie der DDR-Literatur“ (http://www.aesthetische-eigenzeiten.de/projekt/ddr-literatur/beschreibung/), das literarische Zeitimaginationen behandelt, deren Ausgangspunkte bestimmte geschichtsträchtige Orte und Gegenden der DDR bilden, bin ich des Öfteren auf verschwundene Dörfer in der DDR- und Post-DDR-Literatur gestoßen. Drei davon würde ich in dem geplanten Workshop-Vortrag vorstellen, um zugleich eine bestimmte Bewegung aufzuzeigen, die ich auch auf einer größeren Textbasis feststellen konnte: die vom utopischen Chronotopos der DDR-Literatur zum memorialen Chronotopos der Post-DDR-Literatur.
Das erste Beispiel wäre Passendorf, das von Halle-Neustadt überbaut wurde und in der Kollektivreportage von Werner Bräunig, Peter Gosse, Jan Koplowitz und Hans-Jürgen Steinmann Städte machen Leute (1969) als obsoletes Beispiel einer christlich dominierten Epoche inszeniert wird, die auf eine Vernichtung von Geschichtszeit hinausläuft („Zeit an Friedhofskreuze genagelt“). Dagegen wird ein Könnensbewusstsein in Anschlag gebracht, das die menschliche Imagination bei den Vorgriffen auf das zu realisierende Großprojekt städteplanerischer Raumneuordnung zu triumphalistischen Höhenflügen treibt: Halle-Neustadt als „ein sozialistisches Gemeinwesen, würdig der gebildeten Nation, die wir doch zu werden uns vorgenommen haben, eine Stadt, die nicht nur lebt, sondern in der das Leben anders ist, neuartig, erregend, Sinne und Musen weckend“.
Das zweite Beispiel wäre das „Dörfchen W.“ aus Wolfgang Hilbigs 1991 geschriebener, 1992 in einer ersten Fassung, dann 1994 in einer stark überarbeiteten Version publizierten Erzählung Die Kunde von den Bäumen. Das Dorf zunächst den Tagebauen geopfert, dann durch eine Müllhalde aufgefüllt, um schließlich in dem die Erzählung strukturierenden Dualismus Stadt vs. Müllhalde aufzugehen. Der Dualismus verweist neben der spatialen Dimension auf einen sozialen und einen temporalen Gegensatz. In der Stadt übernimmt der Einzelne die ihm vom Staat zugewiesene Rolle als Werktätige am offiziell proklamierten „Fortschritt“, der aber tatsächlich die temporalen Dimensionen der Gegenwart und der Zukunft in die Zeitlosigkeit der andauernden Stagnation überführt. An der Peripherie der Müllhalde dagegen agieren die Müllmänner als Arbeiter gegen das Vergessen: „Allein die Müllarbeiter, sagte sich Waller, haben nichts vergessen! Sie konnten nicht vergessen, denn ihre Arbeit war der dauernde Umgang mit dem Material der Vergangenheit.“
Das dritte Beispiel wäre das Ende der 1960er Jahre für eine Absetzanlage der SDAG Wismut geopferten Dorfes Culmitzsch, das Heimatdorf des Schriftstellers Lutz Seiler. Einerseits kulminiert die in der Erzählung Der gute Sohn (aus dem 2009 erschienenen Band Die Zeitwaage) sich vollziehende Emanzipationsgeschichte eines Sohnes von seinem aus dem Krieg heimgekehrten Vater in dem letzten Dorffest, das die Culmitzscher feierten. Andererseits geht Seiler in dem 2010 erschienenen Gedicht Culmitzsch einen entscheidenden Schritt weiter und lässt das titelgebende Dorf im Medium der lyrischen Sprache regelrecht wiederauferstehen.
Kurz: Am Beispiel dreier verschwundener Dörfer in der DDR- bzw. Post-DDR-Literatur möchte ich einen Bogen zwischen geschichtsphilosophischer Emphase und kritischer Heimatarchäologie spannen.