Historische Leerstellen. Anmerkungen zum Thema aus historischer Perspektive

 

Dörfer verschwinden, das ist eine nicht ganz neue Erkenntnis, die aber mehr Fragen aufwirft, als beantwortet werden können. Schon allein die Frage, wieviele Dörfer wann verschwunden sind, seit wann und was das heißt, „verschwunden?“, ist eine bis heute anhaltende Herausforderung für die Forschung. Die spricht aber nicht von verschwundenen Dörfern, sondern von Wüstungen; in England sind es verlorene Dörfer, „lost villages“. Der deutsche Wüstungsbegriff ist nicht eindeutig, sondern ein wenig schillernd, da ist von temporären Wüstungen, Ortswüstungen oder Flurwüstungen die Rede.
Die Sache ist also nicht einfach. Wenn ein Dorf nicht mehr bewohnt wurde, denn das ist mit Ortswüstung gemeint, dann hieß das nicht, dass die Gemarkung des Dorfes nicht mehr bewirtschaftet wurde, lediglich, dass die Bewohner hier nicht mehr lebten, sie konnten durchaus von einem Nachbarort weiter ihr altes Land bewirtschafteten. Aber es kann auch sein, dass ein Dorf samt Feld nicht mehr bewirtschaftet wurde. Das Phänomen Wüstung ist also vielschichtig.
Wie aber, wenn die Orte verschwunden sind, kommen wir ihnen auf die Spur? Hinweise, Spuren finden sich in mittelalterlichen Urkunden, alten Abbildungen, Flurnamen oder durch archäologische Grabungen. Der Vater der englischen Wüstungsforschung, Beresford, arbeitete mit deutschen Luftbildaufnahme des Zweiten Weltkriegs.
Das Problem bei diesen Quellen: Sie benennen Befunde, enthalten aber praktisch nie Angaben über Prozesse, Hintergründe oder Anlässe.
All das muss durch Kombination mit anderen Informationen ermittelt werden.
Eine entscheidende Frage ist: Wann wurden Orte verlassen? Die beliebte Antwort bei vielen Laien lautet: Im Dreißigjährigen Krieg. Allerdings ist diese Antwort falsch. Wüstungen im großen Stil sind Prozesse, die im Mittelalter stattfanden. Bis vor wenigen Jahrzehnten hieß es, dass die massiven Bevölkerungsrückgänge des späten Mittelalters, eingeleitet durch die Pest, Auslöser der Wüstungsvorgänge waren. Heute geht die Forschung davon aus, dass zwar in dieser Zeit viele Siedlungen wüst fielen, aber nicht nur in dieser Zeit. Dörfer oder kleine Siedlungen wurden auch vorher verlassen, vermutlich im Zusammenhang mit den hochmittelalterlichen Urbanisierungsprozessen. Für viele Menschen war es attraktiver, einen kleinen Ort zu verlassen und in einen größeren zu ziehen, wobei dann durchaus die alte Feldmark weiter bewirtschaftet wurde. Es gibt auch Hinweise, dass dies ebenfalls so bei den nach 1348 wüst gefallenen Dörfern sein konnte. Mittelalterliche Prozesse verliefen in diesem Kontext nicht eindeutig, nur in einer Richtung, denn neben Wüstungen konnte in derselben Zeit und Region parallel zugleich Rodung, also Neuanlage von Dörfern auftreten.
Einen eindeutigen Quellenbefund gibt es also nicht und zudem sind die regionalen Abweichungen größer als früher, etwa bei Wilhelm Abel, angenommen wurde. Eine Antwort auf die Frage, warum Menschen zu bestimmten Zeiten komplett ganze Dörfer aufgeben, bleibt weiter eine Herausforderung für die Wissenschaft.