"Dieses Dorf schwand von der Erde hinweg, ohne daß man zu sagen weiß, wie?" Verschwundene Dörfer und das Unheimliche

 

In der Literatur des 19. Jahrhunderts – vor allem in den verbreiteten Sammlungen von Märchen und Sagen – werden verschwundene Orte (Wüstungen, Ruinenlandschaften etc.) oft als Stätten des Unheimlichen thematisiert. Auch wenn nicht einmal mehr Ruinen auf die hier einst liegenden verschwundenen Orte verweisen, tauchen diese vor den Augen unvoreingenommener Beobachter wieder aus der Vergangenheit auf oder werden – wenn noch als verlassene Ansammlung von Gebäuden vorhanden – mit neuem Leben gefüllt. Die Orte bieten Raum für in die Vergangenheit oder Zukunft gerichtete Imaginationen aller Art. Vermutlich gespeist aus antiken und biblischen Vorstellungen, dass Dämonen und böse Geister bevorzugt an einsame, verlassene Orte verbannt werden, weisen die literarischen Werke des 19. Jahrhunderts verlassenen Orten bevorzugt Gespenster als neue Bewohner zu. Beides – verlassene Dörfer als Freiraum für Imaginationen und als Orte des Phantastischen und Unheimlichen – findet sich noch in der Literatur der Neuromantik an der Wende zum 20. Jahrhundert. In neuerer Zeit wurden diese Attribuierungen verlassener Dörfer einerseits in der Fantasy-Literatur übernommen, andererseits aber auch in einem touristischen Kontext, der verlassene Dörfer, die bekanntermaßen demnächst dem Braunkohletagebau oder anderen wirtschaftlichen Unternehmungen weichen müssen, ungeahnt attraktiv erscheinen lässt, weil sich hier (scheinbar angenehme) Schauer- und Gruseleffekte erleben lassen.
Der Vortrag soll an wenigen markanten Beispielen aus der deutschsprachigen Literatur zeigen wie topographische Leerstellen in der Literatur des 19. Jahrhunderts als Räume des Unheimlichen und als Freiräume der Imagination thematisiert werden, auf welche kulturgeschichtlichen Zusammenhänge diese Zuweisungen vermutlich zurückzuführen sind und wie die Trivialliteratur des 20. und 21. Jahrhunderts diesbezüglich an Vorbilder aus dem 19. Jahrhundert anknüpfen kann. Darüber hinaus soll untersucht werden, wie sich ein spezifisches touristisches – oft voyeuristisches – Interesse an verlassenen Dörfern aus diesen Quellen speist und inwieweit solche literarischen und touristischen Bewertungen verschwundener Orte eine Ausblendung der sozialen Wirklichkeit nach sich ziehen, die Unbeteiligte an einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem Verschwinden ländlicher Räume hindert. Wer in verlassenen Orten vor allem das Gruselige sucht, wird sich vermutlich weniger für die wirtschaftlichen Hintergründe des Verschwindens dörflicher Räume und die Entwurzelung ihrer bisherigen Bewohner/innen interessieren.