Imaginationen des Verlorenen im Werk von Gary Snyder

 

Gary Snyder ist in den USA ein bekannter Lyriker, Essayist und Umweltaktivist. Seine Anfänge liegen in der Beat-Generation. Auf jener Lesung in San Francisco, Mitte der 1950er Jahre, als Allen Ginsberg zum ersten Mal Howl vortrug, las auch Gary Snyder sein Lang-Gedicht A berry feast, das heute als eines der ersten literarischen Zeugnisse einer deep ecology gilt. Anders als Ginsberg oder Keruac, die mit dem Zen-Buddhismus eher liebäugelten, ging Snyder danach für 12 Jahre nach Japan, um den Zen-Buddhismus zu studieren. In den 1970er Jahre kehrte er in die USA zurück und baute im Norden Kaliforniens eine dörfliche und ökologisch ausgerichtete Gemeinschaft auf, in der er, heute 85 Jahre als, immer noch lebt.
In seinen Essays – das bekannteste seiner Bücher trägt den Titel The Practice of the Wild – vertritt er einen bio-regionalism, der einerseits auf die genaue Kenntnis einer Landschaft und ihrer ökologischen Zusammenhänge abzielt, andererseits in diese Landschaft traditionelle und vormoderne menschliche Lebensgemeinschaften (re)imaginiert. Sie entstammen der Zeit vor der industriellen Revolution und der Eroberung des Westens durch weiße, europäische Siedler, und sind zumeist indianischen Ursprungs. Doch Synder geht es dabei in seinen Essays nicht allein um eine Ästhetisierung, sondern darum, aus der Imagination des Vergangenen und Verlorenen ein Modell für das Überleben des Planeten und allen Lebens darauf zu entwickeln.
In seinen lyrischen Arbeiten hingegen, in denen er oft Bezug nimmt auf chinesische und japanische Formen, so auf das Haibun – die Prosaform des Haiku – , stehen mehr die Wahrnehmung und die ästhetisierende Imagination im Vordergrund. Dem Zusammenspiel von Lyrik und Essay im Werk von Gary Snyder werde ich in meinem Beitrag im Hinblick auf das Thema des Workshops nachgehen.
Das Werk von Gary Snyder ist in Deutschland noch recht unbekannt. Dennoch liegen eine Reihe seiner lyrischen Bücher in dem kleinen Stadtlichter-Verlag in schönen zweisprachigen Ausgaben vor. Und The Practice of the Wild ist 2013 bei Matthes und Seitz unter dem Titel Lektionen der Wildnis erschienen. Allein die etwas unbeholfene Übersetzung des Titels zeigt, dass sich im Deutschen keine vergleichbare Tradition der romantischen Praxis im Umgang mit der Natur entwickelt hat wie in den USA seit Henry David Thoreau und seinem Lebensexperiment am Walden Pond.