Der Mann mit der DV-Kamera. Wang Bing filmt zerfallende Lebenswelten

 

Von 1999 bis 2001 dokumentiert der just von der Filmschule gekommene Filmemacher Wang Bingdie Arbeiter, Einwohner und Fabriken im Tiexie-Bezirk in Shenyang, China. Diese Aufnahmenstellen - in Form des neunstündige Dokumentarfilms West of the Tracks (2003) - die letzten Monateeiner ehemals prosperierenden und nun zum Brachland designierten Industrielandschaft dar.Im Zuge ökonomischer Reformen, die unter dem Slogan Grasping the large, letting go of the smallbekannt wurden, beschloss die chinesische Regierung Ende der 1990er Jahre die Schließung einigerunprofitabel gewordener Industriebetriebe. Davon betroffen waren unter Anderem große Teile derim Tiexie-Bezirk ansässigen SOEs (State Operated Enterprises) im Nordosten des Landes. Dieunter japanischer Besetzung zur Waffenherstellung errichteten und später durch konfisziertesdeutsches Kriegsgerät von der Sowjetunion ausgebauten Fabriken hatten seit ihrer ErrichtungMillionen von Arbeitskräften angezogen, die sich in den letzten Jahren des ausgehenden Milleniumsmit ihrer Entlassung konfrontiert sahen.
Der Film ist als Triptychon angelegt: der erste Teil (Rust) bewegt sich zwischen den letzten verbliebenen Arbeitern der Fabriken, beobachtet sie bei Gesprächen und erkundet die zerfallenden Bauten. Remnants hält im Anschluss die Situation im anliegenden Arbeiterviertel fest, begleitet die jugendlichen Einwohner und die Wohnsituation vor Ort. Der dritte Teil (Rails) schließlich rückt den Fokus auf zwei Protagonisten, Vater und Sohn, das Szenario auf eine intime Perspektive verengend. Mich interessiert primär das Verhältnis des Filmemachers zum vorgefundenen Schauplatz, dessen Themen und Protagonisten: welche Formen der Inszenierung kommen zum Einsatz, um der Vielstimmigkeit Ausdruck zu verleihen und trotzdem eine umfassende Perspektive zu geben? Welche Art von Bilder (bzw. Kameraarbeit) fordert die Tatsache des überall handgreiflichen Zerfalls heraus? Wie gestaltet sich Wang Bings Anwesenheit diegetisch? Führen die Unterschiede der Schauplätze und Protagonisten (Fabrik-Arbeiter, Wohnsiedlung-Jugendliche) ebenso zu unterschiedlichen stilistischen Maßnahmen? Wang Bings Stil wird, wie der vieler Vertreter der seit den frühen 90ern bestehenden, unabhängig produzierten Dokumenarfilme in China, als Xianchang bezeichnet. In der Tradition des Cinema Verité stehend, kann dieser Begriff in etwa mit Lebhaftigkeit übersetzt werden. Zum einen zielt er auf die Unmittelbarkeit des Filmemachens vor Ort: Auf die Aufzeichnung unvorhersehbarer Ereignisse und den Eigensinn der Lokalität und ihrer Bewohner. Zum anderen ist damit das Verhältnis des Regisseurs zum Sujet gemeint, der mehr oder weniger expliziten Reflexion des Dokumentierens, der direkter oder indirekter fühlbaren Anwesenheit und Interessenlage des Filmenden.
In einer Analyse seiner Vorgehensweise möchte ich zeigen, wie Wang Bing einen emphatischen Zugriff auf die Themen und Protagonisten findet. In diesem Fall heißt das, wie der Film den Spuren und Zeichen des Verfalls im brachliegenden Industrieviertel und den Konsequenzen für Arbeiter und ihre Familien folgt. Eröffnet wird West of the Tracks etwa mit einer Bahnfahrt entlang der Fabriken, wobei die Kamera schlicht am Fahrwagen des Zuges montiert ist. Auf diese Weise macht sich Wang Bing auf spontane Weise die Architektur zunutze und erschafft gleichzeitig eine gelungene Immersion. Zwischen den langen Einstellungen, in denen Fabrikarbeiter völlig unberührt von der Tatsache ihres Gefilmtwerdens Duschen, die Politik der KPCh kritisieren und in Streit gegeneinander ausbrechen, zeigt Wang Bing Bilder der maroden Anlagen. Dies sind allerdings keine klassischen Totalen, die das Bild zu einer porträtartigen Ansicht zusammenschnüren. Vielmehr macht sich die Ratlosigkeit, das geschichtliche und morbide Interesse an der augenblicklich zur Ruine werdenden Lebenswelt bemerkbar. In dem Aufsatz möchte ich der Spontanität, Einfühlsamkeit und Form dieser Annäherung nachspüren. Dabei werde ich auch einen Seitenblick auf weitere chinesische Dokumentarfilme werfen, welche die Konsequenzen postsozialistischer Politik, die Auflösung und Brachlegung von Arbeits-und Lebensverhältnissen, festhalten (z.B. Ghost Town (2009) von Zhao Dayong oder Before the Flood (2005) von Li Yifan und Yan Yu).