Das Projekt untersucht die literarische Darstellung des Dorfes in der Literatur sozialistisch geprägter Staaten in der östlichen Hälfte Deutschlands bzw. Europas zwischen circa 1950 und 2010. In exemplarischen Analysen werden die verschiedenen Konnotationen des Dörflichen beschrieben und analysiert. Der Fokus liegt dabei auf einem spezifischen Zusammenhang zwischen dem literarischen Sujet des osteuropäischen Dorfes und einem Erzählen in magisch-realistischer Manier. Die Untersuchung dieser Verbindung(en) ermöglicht eine Re-Lektüre osteuropäischer Dorferzählungen und bietet eine alternative Geschichte der osteuropäischen Literatur.


Dem Erzählen vom Dorf kommt seit seinen Anfängen bei Berthold Auerbach im 18. Jahrhundert eine besondere Rolle zu: Dorfnarrative begleiten sowohl lokale als auch globalgeschichtliche Veränderungen und spiegeln dabei unterschiedliche Reaktionen auf Modernisierungsprozesse wider (Baur/ Neumann/Twellmann). Ausgehend von Sabrina Janeschs 2010 erschienenem Roman Katzenberge, der durch Imagination und (Rück-)Projektion eine Art Rückruf in die Vergangenheit vollzieht (›Postmemory‹) und dabei auf den Magischen Realismus als transnationalen wie transgenerationellen Erzählstil zurückgreift, fragt die Arbeit nach den verschiedenen Konnotationen des magisch-realistischen Erzählens in der sozialistischen und postsozialistischen Landleben-Literatur. Die Rolle des Dorfes gründet in den Texten zum einen in einer Art Rückbesinnung, in der Imagination und poetologischen Anverwandlung bestimmter Traditionen und dem (Wieder-)Aufgreifen lokaler Konzepte von langer Dauer. Das Dorf erweist sich als kultureller Residualraum. Zum anderen spiegeln sich hier – so eine These der Arbeit − Antworten auf Modernisierungsschübe, Zensurbedingungen und traumatische Erfahrungen im Umgang der Texte mit Momenten von Magie und Zauber. Magie, als ein Konzept, das eng mit Ideen von Wandel und Verwandlung verknüpft ist, fungiert hier als Motiv, um Transformationsprozesse im Text zu übersetzen und einen Ausdruck für Zurückgelassenes und Verändertes zu finden, den eigenen Standpunkt gegenüber modernistischen Bestrebungen zu markieren und sich gegenüber den Erfahrungen des Totalitarismus zu positionieren. Die ausgewählten Dorfnarrativen spielen ›am Rande der Welt‹ und rücken dabei Figuren in den Vordergrund, die der periphere Charakter des Raumes einzufordern scheint. Von den ›Rändern‹ kommend treten diese Figuren auf den Plan und spiegeln in ihrer Rolle als ›Sonderling‹ (Bachtin), ›Fremder‹ (Simmel) oder ›asynchrones Element‹ (Lotman) die (gesellschaftlichen) Strukturen und (kulturellen) Bedingungen ihrer Zeit. Ausgehend von den Protagonisten der Texte soll die Darstellung des Ostens in literarischen Werken aus Deutschland, Rumänien, Polen und Ungarn untersucht werden. Der Fokus liegt dabei auf Dorferzählungen peripherer Regionen – Lausitz, Banat, Bukowina, Schlesien und Galizien – die dezidiert mit Mitteln des Magischen Realismus und Elementen des Wunderbaren arbeiten. Der der Arbeit zugrunde gelegte, sehr weit gefasste Begriff des ›Magischen Realismus‹ umfasst dabei verschiedene Spielarten dieser globalen Erzählpraktik. Durch diese sehr flexible Definition lässt sich ein Spektrum an Bezügen herausarbeiten, das die besondere Verbindung der magisch-realistischen Erzählhaltung sowohl mit der Instanz des Dorfes als auch mit dem osteuropäischen Raum kenntlich machen soll. Eine erste Beobachtung ist in diesem Kontext der Zusammenhang zwischen magisch-realistischem Erzählen und der literarischen Darstellung von Traumata (Arva/Roland/Faris).


Das Wunderbare widerspricht den Prämissen des bis 1989 als Staatsdoktrin geltenden Sozialistischen Realismus, dessen Texte als Abbilder einer wunderlosen Wirklichkeit bekannt geworden sind. Es setzt den realistischen Charakter der erzählten Welt nicht nur aufs Spiel, sondern disqualifiziert auch in poetologischer Hinsicht. Umso rätselhafter ist das Auftreten wunderbarer oder magischer Ereignisse in populären Texten aus der Zeit zwischen 1945 und 1989. Die in vergleichender Perspektive herangezogenen Texte der Gegenwartsliteratur sowie Rückbezüge auf die magisch-realistischen Werke Elisabeth Langgässers oder Hermann Kasacks tragen dem Anspruch Rechnung, eine vergleichende Perspektive über zeitliche und räumliche Grenzen wie auch über als Zäsuren wahrgenommenen Einschnitten (1945, 1989) hinweg einzunehmen.


Das Textkorpus umfasst zum jetzigen Zeitpunkt u.a. folgende Autoren und Texte: Erwin Strittmatters Wundertäter-Trilogie (1957, 1973, 1989), Jurij Brězans Märchen Krabat oder die Verwandlung der Welt (1976), Herta Müllers Prosaband Niederungen (1982/84), Sabrina Janeschs Roman Katzenberge (2010) sowie Maria Matios Roman Darina die Süße (2004, 2013).

 

 

Julia Kölling (Konstanz)