Das entschwundene Land. Topografien bei Astrid Lindgren

 

„Meine Kindheit verlebte ich in einem Land, das es nicht mehr gibt, aber wohin ist es entschwunden? Konnte das alles wirklich in einem kurzen halben Jahrhundert so anders werden?“ (A. Lindgren: Das entschwundene Land. Hamburg 1977, S. 65) „Entschwunden“ nennt die schwedische Kinderbuchautorin Astrid Lindgren (1907-2002) die Zeit auf dem Bauernhof Näs in Småland, wo sie mit ihren drei Geschwistern aufgewachsen ist. Näs gibt es nicht mehr, ebenso wie das Leben der Häusler, Mägde und Knechte, die langen Winterabende, an denen die Erwachsenen bei Kerzenschein ihren Kindern Geschichten von Trollen erzählten, und die großen Dorffeste, an denen von morgens bis abends geschlemmt wurde, wohingegen das restliche Jahr über das Leben kärglich war. Ökonomische, technische und soziokulturelle Veränderungen haben zum Verschwinden dieses Ortes geführt.
Die Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels (1978) benutzt nicht das Adjektiv „verschwunden“, das laut DUDEN „verloren gegangen, nicht auffindbar“ bedeutet, sondern „entschwunden“, was „aus dem Blickfeld entfernt, zu jemandes Bedauern vergangen“ impliziert. „Verschwunden“ ist folglich lokal zu verstehen und meint die entstandene topografische Leerstelle. Die vermeintlich heile Welt von früher wird der modernen Welt mit ihrer negativen Zukunftsprognose gegenübergestellt. „Entschwunden“ bezieht sich hingegen auf den Ort als ein immaterielles Gebilde, dessen Entschwinden Melancholie, Nostalgie, ja vielleicht auch Wehmut beim sich Erinnernden auslöst, aber keine Trauer.
Während das Verschwundene ̶ Häuser, Landschaften, Personen ̶ unwiederbringlich fort ist, da es sich um Materielles handelt, ist das Entschwundene ̶ Gerüche, erzählte Märchen, Kinderspiele ̶ zwar auch nicht mehr unmittelbar da, aber es lässt sich durch die Erinnerung wiederbeleben. Der französische Historiker Pierre Nora sieht in dem Verschwinden selbstverständlicher Gedächtnisgemeinschaften den Grund für die Entstehung von Gedächtnisorten. An die Stelle des kollektiven Gedächtnisses, dem der soziale Bezugsrahmen – das Milieu – fehle, würden nun Gedächtnisorte treten (N. Pethes/J. Ruchatz (Hgg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 199). Solche Gedächtnisorte sind Astrid Lindgrens Kinderbücher, beispielsweise Pippi Langstrumpf, Ronja Räubertochter, Die Kinder von Bullerbü oder Madita, denn darin wird das Entschwundene heraufbeschworen. Mit welchen medialen Techniken sie dem Verschwundenen das tröstlichere Entschwundene entgegensetzt, soll Thema dieses Vortrags sein.