Zwischen Stasis und Dispersion. Herta Müllers Dorfwelten am Rande des Verschwindens

 

Vor der Leerstelle kommt das Verschwinden: Herta Müller beschreibt in ihrem Prosaband Niederungen (1982) langsame Dissolutionen einer Dorfwelt, sie sich kurz vor der Auflösung befindet. Die Kräfte des Alten, die doch den Identitätskern der Bewohner ausmachen, sind zu leeren Masken und Routinen erstarrt, während an den topographischen Außengrenzen des Dorfes die Natur zu nagen begonnen hat: »Vom Feld her wuchert Puppengras ins Dorf.«
Während eine Vielzahl von Dorfgeschichten vom ›Einbruch der Moderne‹ erzählen und so die Kräfte der Veränderung und des Verfalls als von außen kommend imaginieren, unterlaufen die Prosatexte Müllers dieses Narrativ, indem sie die den langsamen Verfall des Dorfes als eine aus dem Inneren des Dorfes selbst heraus entstehende, zersetzende Dynamik beschreiben.
Aus diesem Kräftefeld von Stasis und Dispersion generiert sich ein Schwellenraum zwischen ›gerade noch‹ und ›nicht mehr‹, der im Falle der Niederungen aus der Perspektive eines Kindes teils protokolliert, teils magisch beschworen und so erzählerisch vor seinem Untergang bewahrt wird: »Ich stülpe am Dorfrand die grünen Kelchblätter um, damit sie das Dorf nicht zudecken und überwuchern, wenn die Leute ahnungslos sind.« Die Erzählerfigur ist selbst eine Schwellenfigur, die, eine exklusive Beobachterrolle einnehmend, Dorf und Landschaft (in sich) vereint oder kontrastierend entgegensetzt: »Es wuchsen hohe Stauden aus meiner Haut. Ich war eine schöne sumpfige Landschaft. […] Ich wartete, dass die großen Weiden zu mir über den Fluss kommen, dass sie ihre Zweige in mich schlagen und ihre Blätter in mich streuen.«
Müller weiß: wer die Dinge in aller Hellsichtigkeit interpretieren will, muss es unter der Berücksichtigung ihres Verschwindens tun (Baudrillard). Dieser ›Poetik des Verschwindens‹, die analytisch genau die dörflichen Untergangsszenarien mit gesellschaftlicher Stagnation und Semantiken der Peripherie in Verbindung setzt, wird der Vortrag nachgehen und nicht zuletzt auf das utopische Potential der Erzählerposition befragen.