Hat sich das Bergdorf einerseits seit dem Aufkommen des Alpinismus im 18. Jahrhundert für den Nicht-Dörfler als fester Bestandteil der Alpenidylle etabliert (Albrecht von Hallers Die Alpen), so offenbart es sich andererseits, sobald der Blick tiefer eindringt, als isolierte Gemeinschaft, die nicht nur fremden Einzelgängern einen Raum schafft (Thomas Bernhards Frost, Hermann Brochs Bergroman), sondern ebenso bizarre und oft problematische Figuren geradezu produziert (Ludwig Hohls Drei alte Weiber in einem Bergdorf, Robert Schneiders Schlafes Bruder).
Auch Vea Kaisers Roman Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam (2012) handelt von einem eigensinnigen Dörfler, Johannes Gerlitzen, dessen Aufstieg zum Bandwurmforscher einen Ausgangspunkt für eine Generationengeschichte schafft. Um die Wissenschaft zu den „Barbaren“ in das Bergdorf St. Peter am Anger zu bringen, muss Gerlitzen nach „unten“ gehen. Das Bergdorf inklusive seiner Bewohner, Bräuche (Maistrich), Traditionen und Dialekte, das „Oben“, konstituiert sich erst durch das ihm entgegengesetzte „Unten“. Damit reiht sich der Roman in eine literarische Tradition ein: Diese Polarstruktur ist für die Darstellung des Bergdorfs charakteristisch.
In Ursula Meiers Film L’enfant d’en haut (2012) ist das „Bergdorf“ auf ein Hochhaus geschrumpft, in dem der zwölfjährige Simon mit seiner Mutter Louise, die sich als seine Schwester ausgibt, wohnt. Das Dorf ist zum Durchgangsort geworden und scheint sich seiner charakteristischen Isolation entledigt zu haben. Die auf einer Schnellstraße vorbei brausenden Autos, nehmen Louise regelmäßig mit und bringen sie irgendwann wieder in das Hochhaus zurück. Simon fährt täglich mit dem Lift in ein Skigebiet, um die Skiausrüstung wohlhabender, Englisch sprechender Touristen zu klauen und sie anschließend zu verkaufen. Das „Bergdorf“ entpuppt sich als sozialer Brennpunkt: Problematische Familienverhältnisse („La famille c’est la grosse merde.“), finanzielle Schwierigkeiten, die Kluft zwischen Arm und Reich und die Auswirkungen des Massentourismus rauben der alpinen Schneelandschaft ihre letzte Erhabenheit - das immer wieder auftretende Gebirgsmassiv wirkt fehl am Platz. Mag das Bergdorf von außen betrachtet Alpenglühen und Alpenidylle evoziert haben, so offenbart der Blick in die Welt der Dörfler einen Mikrokosmos grundlegender gesellschaftlicher Probleme. Als Imagination und Fiktion bleibt das Dorf also erhalten, auch im 21. Jahrhundert.

 

 

Tagung Imaginäre Dörfer | Halle | 05.09 - 07.09.2013