Die beiden zeitgenössischen Schriftsteller Kurt Oesterle und Wilhelm Gössmann haben weder gemeinsamen Projekte realisiert noch Kontakt miteinander gehabt. Doch verfassten beide Werke, die das Leben auf den Land, basierend auf ihren eigenen Erfahrungen und Kindheitserinnerungen, darstellen. Der Vergleich der literarischen Stile und Erinnerungen der beiden Autoren erlaubt dem Leser einen umfangreichen Einblick in das Leben der einfachen Dorfbevölkerung.

Wilhelm Gössmann beschreibt in mehreren Werken, was er in seiner Jugend erlebt hat und welche Erinnerungen er mit dem väterlichen Bauernhof verbindet. In seinen Gedichtbänden (Haltepunkte, Zeitweilige Fernsicht, Langenstrot) thematisiert er die Emotionen, die bei der Feldarbeit und der Viehzucht auftreten. Gerade die emotionale Lage wird durch das Symbol des aufklärenden Himmels bildhaft dargestellt – und umfasst sowohl die Natur als auch den tätigen Menschen. Gössmann interpretiert die Arbeit des Bauers als ständiges Umwandeln. Muss er doch die Materie, den Boden, so umwandeln können, dass sie ihn und seine Nächsten ernähren kann. Dabei wird auch das ihm schon gegebene Werkzeug ständig umgeformt. Aus Altem kann Neues entstehen. Gössmann bedauert den unvermeidbaren Niedergang der bäuerlichen Kultur in der Bundesrepublik. Immer mehr Menschen emigrieren in die Städte und lassen ihre Tätigkeit als Ernährer des Staates hinter sich. Mit dem Zerfall der damit einhergehenden Lebensordnung, die sich Jahrhunderten entwickelt hat, ist vor allem der Niedergang der Religion in Verbindung zu bringen; der Religion als zentraler Stützpfeiler der Kultur auf dem Lande. Mit dem Fortschritt vergeht das Mystische, Gott als Schöpfer und Beschützer geht verloren. Doch um der Wahrheit treu zu bleiben: die Vergangenheit in der Erinnerung erscheint immer besser als sie in Wirklichkeit war; somit sollte man auch nüchtern die Gegenwart mit der Vergangenheit vergleichen.

Die Handlung des Romans Der Fernsehgast. Oder wie ich lernte die Welt zu sehen von Kurt Oesterle spielt in einem kleinen Dorf in einer Talschaft in den 60er Jahren. Der Protagonist beobachtet den Wandel der Zeit und den immer stärker auftretenden Fortschritt im Heimatdorf. In fast allen Haushalten tauchen Fernsehapparate, Autos und andere neue Gerätschaften auf. Nur die Eltern und Großeltern der Hauptfigur weigern sich, einen Fernseher und andere technische Neuheiten ins Haus zu schaffen. Oesterle zeigt den starken Wandel, der sich in den frühen Jahren der jungen Bundesrepublik ereignet hat anhand eines namenlosen Dorfes, in dem bäuerliche und handwerkliche Arbeit ebenso wie die lebendige Erinnerung an die Schrecken des vergangenen Krieges den Alltag bestimmen. Die Eltern des Protagonisten sind Relikte einer vergehenden Lebensordnung. Dabei sind mit dem eigenen Sohn für sie die Hoffnungen verbunden, dass er es sein wird, der durch Bildung der körperlichen Schwerstarbeit, und damit auch dem Verharren in der derzeitigen Lebensform, entkommt.

Ziel dieses Vortrags ist die Darstellung eines weitreichenden Bildes der Lebenslage deutscher Dörfer mitsamt der sich in ihnen abspielenden und an ihnen auswirkenden Veränderungen. Wilhelm Gössmann und Kurt Oesterle dienen hier als Chronisten einer Welt, die schon verschwunden zu sein scheint. Die Parallelen, die zwischen den Werken dieser Schriftsteller gezogen werden können, bilden die Grundlage für die Beobachtung und das Verständnis weit reichender Umwandlungen, denen die dörfliche Lebensart ausgesetzt war.

 

 

Tagung Imaginäre Dörfer | Halle | 05.09 - 07.09.2013