Es gibt einige kulturhistorische Gründe dafür, dass sich die polnische Literatur (wie auch Marcel Reich-Ranicki es einmal, nicht ohne leichten Sarkasmus, bemerkte) meist mit dem Leben auf dem Lande beschäftigt: die kulturell dominante Rolle des polnischen Landadels, den Sarmatismus, die späte Entwicklung der Städte usw. Die polnische Literatur entwickelte im Laufe der Jahrhunderte eine starke Tradition idyllischer Topoi des Ländlichen (darunter auch des Dorfes). Vor diesem Hintergrund bekommen die sozialkritischen Darstellungen des Dorfes im 19. und 20. Jahrhundert eine besondere Intensität: Auf dem Nährboden des Idyllischen (als kultureller Folie) entstehen ästhetische Gegenpositionen, die im Ländlichen eine Anti-Idylle – das Grausame, Horrende, Unheimliche – lokalisieren. Die ebenfalls starke polnische Tradition der Darstellung des Dorfes in grotesken, deformierenden bzw. schockierenden Ästhetiken (bis zur Allegorisierung des Unheimlichen) ist gerade vor dem Hintergrund des Idyllischen besonders wirksam. Dieser Ästhetiken bedienen sich gerne auch die Autoren der sogenannten Bauern-Literatur sowie die Filmemacher in der volksrepublikanischen Nachkriegszeit.

Der Vortrag geht der Frage nach der Anti-Idylle in den jüngsten Dorf-Darstellungen nach, die insbesondere vor dem Hintergrund der mit der politischen Transformation einhergehenden memorialen Wende neue Züge bekommt. Im Mittelpunkt der Analyse steht der künstlerische Film It looks pretty from a distance (Z daleka widok jest piękny, 2011) von Anka und Wilhelm Sasnal. Bereits der Filmtitel suggeriert einen Gegensatz zwischen der Fern- und Nahsicht, dem Sichtbaren und Verborgenen, zwischen Landschaft und Sozialem. Der Film reflektiert – so die These – in einer raffinierten künstlerischen Form, die die Opposition des Sichtbaren und des Verborgenen nicht auflöst, sondern allegorisch figuriert, das Dorf als Ort des Verdrängten. Sasnals Film wird im Kontext anderer gegenwärtiger literarischer und filmischer Dorf-Darstellungen sowie der aktuellen gedächtnispolitischen Auseinandersetzungen in Polen diskutiert.

 

 

 

Tagung Imaginäre Dörfer | Halle | 05.09 - 07.09.2013