Was ein Dorf ist versteht man am ehesten als Gegensatz zur Stadt. Der Dichotomie Stadt-Dorf (ferner Zentrum-Peripherie) entnimmt man einige Differenzen. Schon der mittelalterliche Spruch versprach: "Stadtluft macht frei". Räumlich scheint der verfügbare Platz auf dem Land uneingeschränkter zu sein als in der Stadt, wo er zum ökonomischen Faktor wird. Die Aufstiegsmöglichkeiten seien in der Stadt vielfältiger als auf dem Land, der Fortschritt in ihr größer, heißt es. Sozial seien die private Sphäre wie die Entfaltungsmöglichkeiten größer in der Stadt, wie die Isolationsgefahr. Und auch kann das Dorf zur Hölle werden: die „konstruierte Enge“ im deutschsprachigen Roman nach 1989 wurde bereits von Michael Rölcke thematisiert. Am Land widerspiegeln sich alte Strukturen und Traditionen, die in der Stadt schneller infrage gestellt werden. Im Dorf nistet also die Heimat.

 

Viele deutschsprachige Romane seit 1989 sind im Einklang mit dem Großstadttrend der Berlinromane, wie Herr Lehmann von Regener. Spätere nahmen dennoch das Land als Kulisse, wie Gegen die Welt (Brandt). Seit wenigen Jahren spricht man von einer "Neuen Deutschen Provinzliteratur", ein Genre, das offiziell mit Lindter Roman Provinzglück initiiert wurde und zu dem Autoren wie Mattheis, Illies, Ahrens, Kavka, Brüggemann und Rohlede zählen.

Die literarischen Werke, über die ich reden möchte sind Romane jüngerer Autoren in Ostdeutschland, manche von ihnen in der DDR geboren und aufgewachsen. Obwohl es schon erste Vergangenheitsaufarbeitungsversuche bereits vor der Wende stattgefunden sind, nehmen heute diese junge Autoren die Aufgabe zu sich, diese nun verschwundene Welt aufzuspüren und die noch offenen Fragen zu beantworten, auf die weder Eltern, Großeltern noch Staat reagierten. Es ist die Rede von Volker H. Altwasser, Julia Blesken, Jan Böttcher, Patrick Hofmann, Judith Schalansky und Judith Zander unter anderen. In diesem Sinne wird die Rolle der "Dritten Generation Ost" - die junger selbstbewusster Ostdeutschen - relevant.

 

Die Einwurzelung oder die regionale Bezogenheit auf einen Identitätsraum ist ein Grundbedürfnis, behauptet Norbert Mecklenburg. Das Dorf wirkt also identitätsstiftend. Für Ernst Bloch ist Heimat das, "was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war". Dieser Provinzbegriff entspricht der Funktion des Dorfszenario der ausgewählten Romanen: Altwasser nennt sein Letztes Schweigen einen "Abwrackroman", ein Rückblick auf eine Kindheit in der DDR. In Bleskens Ich bin ein Rudel Wölfe trifft die frühere Re auf ihr entfremdetes "sie" zu. In Böttchers Nachglühen treffen zwei Kindheitsfreunde in ihrem Heimatdorf auf einander mit der Absicht, mit der Vergangenheit abzurechnen. Patrick Hoffmann ironisiert geschickt in Die letzte Sau über die Schlacht des verschwundenen Staates DDR im Spiegel einer Familie, die tatsächlich ihre letzte Sau und mit ihr ihren Hof auflösen will. Schalanskys Hals der Giraffe erweckt durch eine Lehrerin den Eindruck, in der Zeit eingefroren zu sein, sie stirbt als eigen(-artig-)e Art aus. À la Böttcher stellt ebenso Seglitz einen Rückblick über den alten Konflikt zweier Brüder dar, für dessen Lösung sich die nächste Generation (die Tochter eines von ihnen) sorgen wird. In Zanders Dinge, die wir heute sagten spürt die Tochter der verstorbenen Hanske das Leben ihrer Mutter - vom allgegenwärtigen Chor der Dorfbewohner umgeben - auf.

 

 

Tagung Imaginäre Dörfer | Halle | 05.09 - 07.09.2013