Mit dem 2010 in Polen erschienenen und 2012 ins Deutsche übersetzten Prosatext „Tagebuch danach geschrieben" legt der 1960 geborene polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk eine Art literarischen Reiseführer über den Balkan und ein Statement über seine Heimat vor, das sich als eine kulturkritische Betrachtung und zugleich eine unprätentiöse Liebeserklärung an Polen deuten lässt. Das Tagebuch besteht aus unchronologisch geordneten Reiseeindrücken, die Stasiuk auf seinen Balkan-Reisen zwischen 2004 und 2010 gesammelt hat. Der in drei Kapitel gegliederte Text ist zugleich ein Bekenntnis des Autors zu seiner mentalen Zugehörigkeit zum Osten als auch ein kritisches Nachdenken über Polen aus einer notwendigen Distanz. In dem kritischen Blick auf das Heimatland aus der Ferne definiert der Erzähler seinen Patriotismus: „Denn Polonia zu verstehen heißt so viel, wie sie von Osten her zu betrachten. Von Osten her zu sehen, wie sie sich verkleidet, sich drapiert, wie sie die hellblauen Hosen mit den goldenen Sternen anprobiert, um zu gefallen." (126)
Die Fixpunkte für das topographische Gerüst von Stasiuks Reiseaufzeichnungen bilden Dörfer, Städte, Metropolen und Landschaften Albaniens wie auch die des ehemaligen Jugoslawiens. Im dritten Kapitel erinnert sich der Erzähler, angeregt durch seine Südeuropa-Reisen, an das nordöstliche Masowien und Podlesien, an Grochów – den Warschauer Ortsteil im Stadtbezirk Praga Południe, wo er aufgewaschen ist – und an das polnische Dorf Licheń, einen Wallfahrtsort in Großpolen, vor dessen Hintergrund er über den polnischen Katholizismus reflektiert. Dabei dienen dem reisenden „Tagebuch"-Erzähler Räume, Atmosphären aber auch eine wahrgenommene Leere als Medien der Erinnerung und der Geschichtsschreibung.

 

Der beobachtende Erzähler gelangt an Orte in Bosnien, Serbien, Montenegro und Albanien, die Schauplätze von ethnischen Kämpfen und Kriegsverbrechen in den 1990er Jahren und von pogromartigen Ausschreitungen (Kosovo) im 21. Jahrhundert waren. Parallel zur realen Balkanreise tritt er eine imaginäre Reise nach Polen an: in die Orte seiner Kindheit, in die Zeit vor und nach 1989. Damit verbunden lässt sich auch ein raumorientiertes Denken des Erzählers feststellen. Die von ihm aufgerufenen balkanischen Dorfs- und Stadtnamen werfen nicht nur einen Schatten, sondern erzeugen auch eine Art Hologramm, durch die sich die Geschichte, die an diesen Orten haftet, vergegenwärtigen lässt. Auf dem Balkan sucht der Erzähler eben nach Spuren der alten und jüngsten Geschichte sowie nach der Eigenart dieser Region, die in der Konfrontation mit der „westlichen Zivilisation" allmählich verloren zu gehen scheint. Der Besuch der geschichtsträchtigen Orte in Südeuropa, an denen der Krieg trotz jahrelangen Friedens sichtbare Spuren oder Leere hinterlassen hat, gilt dem Erzähler zum einen als Spurensuche und Spurensicherung, zum anderen als Grundlage für eine private Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg – der das Heranwachsen des Autors im kommunistischen Polen überschattet hatte – und dem Balkankrieg. In beiden Fällen ist es ein „Danach"-Zurückdenken und „Danach"-Sich-Vergegenwärtigen von Geschichte im Raum eines Nicht-Kriegszeugen, wie der Titel des Romans suggeriert. Das nachgeholte Nachdenken über den Balkan ermöglicht dem Reisenden nicht nur eine Abrechnung mit der eigenen wie auch vaterländischen Geschichte, sondern auch das Reflektieren über Polens heutigen Status quo in Europa.


Ausgehend von einer raum- und gedächtnisorientierten Herangehensweise (Assmann) stellt der Beitrag eine Verbindung zwischen eben jener und den theoretischen Ansätzen des topographical turns und des historischen Narrativs zur Verräumlichung der Geschichte im Sinne Karl Schlögels her und nutzt diese als Grundlage weiterführender Betrachtungen. Im Mittelpunkt der Ausführungen werden dabei ferner Fragen nach der Semantisierung und Funktionalisierung wie auch Erzeugung von Räumen und Atmosphären in Stasiuks „Tagebuch danach geschrieben" stehen.
Andrzej Stasiuk: Tagebuch danach geschrieben, Berlin 2012. Poln. Originalausgabe: Dziennik pisany później, Wołowiec 2010.

 

 

Tagung Imaginäre Dörfer | Halle | 05.09 - 07.09.2013