„Heimatlos“ – Meine Arbeit in Integrationskursen

Julia Luther

 

Die Menschen in meinen Kursen werden gemeinhin als heimatvertrieben, heimatlos oder entwurzelt bezeichnet. Ihre Wurzeln mussten sie aus der heimatlichen Erde reißen. Die sie gut kannten, die sie ihr Leben lang begleitete. Wo sie genau wussten, wie das Leben funktioniert. Wie das Leben verlaufen würde. Sie können zurückblicken auf Geschichten vieler Generationen. Alle wohnen unter einem Dach. Traditionen werden gelebt und an die Nachfahren weitergegeben. Heimat. Nun müssen ihre Wurzeln in einer fremden Erde neu austreiben. Sie müssen eine neue Heimat finden. Sie wollen eine neue Heimat finden. Sie haben keine andere Wahl. Die Wahl wurde ihnen nicht gelassen. Dabei wollen wir sie unterstützen. Integration. Integrationskurse. Sie heißen nicht Deutschkurse. Sie haben einen größeren Auftrag. Zumindest soll dies der Name suggerieren. 600 Stunden Deutsch. 60 Stunden Orientierung. Orientierung? Oder orientiert werden? Sie sollen ihren Platz in der hiesigen Gesellschaft finden. Sich integrieren. Liegt das nur in ihrer Hand? Kann eine einseitige Integration funktionieren? Sollte man nicht stattdessen davon ausgehen, dass erfolgreiche Integration einen beiderseitigen Prozess der Annäherung und Öffnung beinhalten sollte? Kann auf diesem Weg überhaupt eine beständige neue Heimat entstehen? Integration wird üblicherweise als Anpassung und Unterordnung der Zugewanderten an die Zielgesellschaft und ihrer kulturellen, politischen und sozialen Normen und Werte verstanden. Werte und Normen. Heimat im Kopf. Die irdische Heimat mussten sie zwangsläufig verlassen, nun sollen sie auch kritisch mit Ansichten umgehen, die sie dabei unterstützen, ihre Heimat mit sich zu führen. Wir sollen sie nicht domestizieren. Aber wir sollen sie dabei unterstützen zu erkennen, dass „unsere“ Werte und Normen besser sind.


Entwurzelt. Heimatlos. Bindungslos. Ohne sozialen und seelischen Halt. Diese und weitere Definitionen findet man für Asylbewerber, Migranten, Flüchtlinge, Spätaussiedler, Kontingentflüchtlinge, ehemalige Gastarbeiter und was es sonst noch für Bezeichnungen für Menschen gibt. Menschen die ihre Heimat verlassen mussten. Von denen ein Großteil politisches Asyl beantragen musste. Die monatelang in überfüllten Zimmern, Messe- oder Sporthallen ausharren mussten. Die ihre Wurzeln selbst ausreißen mussten. Um ihre Kinder zu retten. Um ihr Leben zu retten. Entwurzelt wandern sie kilometerweit. Harren wieder aus. Zahlen Unsummen, um Grenzen passieren zu können. Damit ihre Daten nicht aufgenommen werden. Manche sitzen in LKWs. 3 Tage ohne Licht, ohne Essen, ohne Toilette, ohne Platz. Sie sehen nicht, wo sie sind, wo sie ankommen. Dennoch würden sie sich selbst nie als Menschen „ohne sozialen und seelischen Halt“ bezeichnen. Sie kämpfen für ihre Zukunft. Sie sind bereit für eine neue Heimat. Sie sind dankbar. Sie wollen ihre Chance nutzen. Sie haben die Umsiedlung ihres Lebens in Kauf genommen. Weil sie ihre Heimat bei sich haben. Ihre Kinder. Ihre Erinnerungen. Ihr Leben. Ihr Fokus hat sich verschoben. Fragt man sie nach ihrem Heimatland, strahlen sie zunächst. Die Augen glänzen. In den meisten Fällen. Sie erzählen sprudelnd und lächelnd von ihrem Leben. Am Fluss. Wo sie immer Fische gefangen haben. Wo sie gegrillt haben. Wo ihre Kinder gespielt haben. Sie sprechen über ihr Haus. Über ihre Arbeit. Das Leben in der Stadt. Über ihre Schulzeit. Jeder will etwas von sich preisgeben. Über seine Heimat sprechen. Das laute Chaos ist kaum zu bändigen, weil innerhalb kürzester Zeit so viele Gedanken in ihre Köpfe schießen, die sie unbedingt aussprechen wollen. Es tut ihnen gut, darüber zu sprechen. Es macht sie glücklich. Kurz darauf schlägt die Stimmung um. Einige Tränen sind geflossen. Manche verlassen den Raum. Diese Heimat ist nicht mehr da. Diese Erinnerungen zeugen von der Vergangenheit. Die Bilder sind jedoch immer noch präsent. Sie erzählen gern von den schönen Zeiten und ihrem Leben, ihrer Heimat. Sie vermissen ihre Heimat. Aber sie sind sich dessen bewusst, dass diese Heimat nur noch in ihren Köpfen existiert. Und das gibt ihnen die Kraft, hier neu zu beginnen, um neue Erinnerungen zu erschaffen. Damit sie später einmal ihren Enkeln ebenso glühend von ihrem Leben in ihrer neuen Heimat berichten können. Sie wollen teilhaben.


Wie schafft man sich eine neue Heimat? Wie kommt man an in einer neuen Gesellschaft? Welche Werkzeuge kann man den „Heimatlosen“ in die Hand drücken, damit ihre Wurzeln fest in eine neue Erde wachsen? Oder sollen die Wurzeln vielleicht erst mal nicht so tief ins Erdreich dringen…in der alten Heimat, der bekannten Erde, sprießen die Triebe doch viel kraftvoller. Vielleicht verändert sich alles. Vielleicht können sie wieder zurückgehen. Dorthin, wo sie sich auskennen. Wo sie hingehören…manche stehen auf dieser Seite. Sie hoffen, dass sie ihr Zuhause zurückbekommen. Viele akzeptieren, dass sich der Wind gedreht hat. Sie wollen hier leben, ein Zuhause haben und ihre Heimat hier finden.


Manchmal bin ich ihre Schwester in Deutschland. Ihre Tochter. Ihre Freundin. Ich kann sie dabei unterstützen, hier neue Wurzeln zu schlagen. Ich kann sie abholen und mit ihnen zusammen lachen und weinen. Ihnen zuhören und für sie da sein. Dies überwiegt. Lehrerin bin ich oft nur in zweiter Instanz. Heimatlos. Entwurzelt. Ohne sozialen Halt. Dies alles überwinden sie. Dies entspricht nicht ihrer Sicht auf ihr Leben. Sie kämpfen und arbeiten hart. Für ein neues Leben. Für eine neue Heimat. Für ihre Kinder. Für sich selbst. Sie lachen zu sehen, glücklich, mit neuem Job, einer schönen Wohnung. Zu hören, dass ihre Kinder Freunde gefunden haben und sie das erste Gespräch alleine mit einem Arzt auf Deutsch führen konnten. Das ist Heimat.

 

7. Juni 2016