Mein Dorf Nieste

Katharina Weber

 

Es ist noch früh und so trotte ich müde die Straße entlang. Müde bin ich auch, weil ich gestern so viel zu tun hatte. Ich war live beim Maibaum-Errichten anwesend, das ist das Ereignis hier schlechthin! Eigentlich betrifft es mich nicht direkt, ich bin dieses Jahr mal wieder verschont worden, aber miterleben will man ja doch alles. Einige meiner Kollegen und Kolleginnen mussten dieses Jahr ran, so ein Schlachteessen kommt schließlich nicht von ungefähr. Ich habe stattdessen alles einfach beobachtet. Wie jedes Jahr. Und im Prinzip wie jeden Tag.


Am Morgen danach trotte ich also durch Nieste. Nieste. Das Dorf, in dem ich geboren wurde, in dem ich aufgewachsen bin, in dem ich seitdem lebe und das ich wohl auch nicht verlassen werde. Zuerst geht es an der Kirche vorbei, in die sonntags zwar immer weniger Leute strö-men, die aber nach wie vor ein wichtiger Begegnungsort ist. Manchmal finden danach noch Kaffeetrinken statt, besonders natürlich, wenn Kinder getauft wurden, Leute geheiratet haben, die Jugendlichen konfirmiert wurden oder sich jemand für immer aus der Dorfgemeinschaft verabschiedet hat. Betrifft mich auch alles nicht. Nur bei den Konfirmationen kommen die Jugendlichen manchmal in ganzen Herden rüber, weil sie den Trubel nicht aushalten, führen ihre geheimen Gespräche bei uns oder machen sich über uns lustig. Macht mir alles nichts aus, nur wenn sie rauchen, das mag ich wirklich nicht.


Dann kommt die Pizzeria, geführt von Antonio, der sich damit einer scheinbar lebenslangen Fehde mit Heiko ausgesetzt hat, der das Landgasthaus direkt gegenüber führt. Schnitzel vs. Parma-Pasta - mir ist beides nicht Recht. Dabei sollten die beiden zusammenarbeiten - spätes-tens seit oben im Dorf die bayrische Königsalm eröffnet hat - Bayern in Hessen. Ganz schön peinlich. Aber den Leuten und den Touristen gefällt's. Denen doch egal, dass unsereins da ganz schön drunter zu leiden hat. Hauptsache, was Deftiges auf dem Teller.


Gerade schließt Wilfried seine Tür auf und grüßt freundlich. Wilfried mag ich. Er ist der ein-zige Arzt hier im Dorf und hört sich jeden Tag den neuesten Klatsch der Omis an. Glaube ich. Erzählen die sich nämlich begeistert, wenn sie bei mir vorbeikommen. Ich war noch nie bei ihm, er ist einfach nicht der richtige Arzt für mich, das weiß ich genau.


Seine Praxis liegt direkt neben dem Schlecker. An dem steht zumindest immer noch Schle-cker, gibt es aber natürlich nicht mehr. Die Dorffrauen überlegen, ob sie eine neue Drogerie in dem Laden eröffnen. Aber es wurde immer viel geklaut, habe ich mal gehört. Ist ja auch blöd, wenn jeder weiß, was du so an Hygieneartikeln kaufst. Und das weiß hier ganz schnell jeder. So ist Nieste.


Dann vorbei am Geschenkelädchen, das noch geschlossen hat und an der Bäckerei, aus der es wie immer herrlich duftet. Heute ist Speckkuchen im Angebot. Ich rümpfe die Nase. Auch der Brennstoffhandel und der Fischladen am Marktplatz haben noch geschlossen. Der Marktplatz ist meine letzte Station auf dem Weg zum alltäglichen Dienst. Und direkt gegenüber liegt dann der Festplatz, daneben die Grillhütte und die Tennis- und Sportplätze vom Sport- und Schützenverein. Von hier aus kann ich also wirklich alles bestens beobachten – was ich zuge-gebenermaßen auch mache, man hat ja sonst nichts zu tun. Und gestern wurde hier der Mai-baum errichtet. Die Vorbereitungen auf dem Platz liefen seit Tagen und trotzdem war es kurz davor, im Chaos zu enden. Wie jedes Jahr. Es endete aber natürlich mit dem Schlachteessen, aber davor wird quasi Krieg geführt. Und daran trägt nicht nur das Bier Schuld, das nicht nur zu diesem Anlass gerne mal fließt, sondern auch das Organisationstalent der Verantwortli-chen. Gemäß dem Motto „Der wo die Aaweid erfunne hot, muss nix zu duun gehabbd hawwe." stehen die meisten eher rum, als mit anzupacken. Am schönsten war gestern der kreischende Edgar, unser Bürgermeister, der sich einfach nicht beruhigen wollte, weil der typische Maibaum-Schmuck nicht aufgetaucht ist. Und dann natürlich in letzter Minute doch, weil sich die Jugendlichen einfach mal wieder einen kleinen Scherz erlauben wollten. Wenn nichts los ist, macht man sich seinen Spaß eben selber.


Denselben Spaßfaktor hat für mich nur die Kirmes. Da kommen auch einige von außerhalb, es gibt noch mehr Alkohol und die Jugendlichen sind involvierter. Der Weihnachtsmarkt ist da-gegen nicht so gut. Einfach zu wenig los. Und wenn dann das Ganze nur zum Glühweintrin-ken verkommt, na ja, wie gesagt, man muss sich seinen Spaß eben machen, wenn sonst keiner zu finden ist. Für die Kleinen stehe ich allerdings jederzeit gerne zur Verfügung - und die lie-ben unsere heiße Schokolade, sowas Gutes und Frisches bekommt man sonst nirgends!


Und so stehe ich hier philosophierend. Eigentlich mache ich im Dienst nichts anderes, man erwartet ja auch sonst nichts von uns. Was das angeht, haben wir quasi Beamtenstatus. Ich liebe aber dieses Gefühl, abends nach Hause zu kommen und seine Pflicht erfüllt zu haben. Besonders, wenn man dann noch die anderen trifft, ein bisschen über den Tag schwätzen kann und so weiter. Das schätze ich schon sehr. Da gibt es auch keinen Neid und keine Konkur-renz, wir haben es allesamt gut hier. Es ist Platz für alle da, wir werden gebraucht und ge-schätzt. Wo gibt es das heutzutage noch? Da habe ich schon ganz andere Horrorgeschichten drüber gehört. Man weiß ja immer nicht, was man glauben kann und darf, aber es hört sich schon einiges sehr gruselig an. Nein, nein, was die Gesamtsituation angeht, habe ich es in Nieste wunderbar getroffen. Meine Kollegen und Kolleginnen sind nett, der Chef ist wirklich einfühlsam und die sonstigen Arbeitsbedingungen stimmen auch. Das liegt auch viel an der Umgebung hier. Die Dorfstraße ist ruhig und das Dorf ist direkt von purer Natur umgeben. Wälder finde ich persönlich nicht so interessant, aber die unendlichen Wiesen und Felder – das hat schon was und das gibt es nicht überall. Für die Kinder ist das auch toll! Jede Menge Natur zum Spielen und Toben. Doch, das kann ich wirklich sagen: Ich freue mich jeden Mor-gen auf meinen Dienst. Nur das frühe Aufstehen, das fällt mir wirklich nicht leicht. Manche meiner Kolleginnen sind da schon voll dabei und quasseln ohne Punkt und Komma, aber wenn Bauer Heinz die Melkmaschine auf mein Euter schiebt, dann döse ich einfach noch ein bisschen weiter. Und träume von Nieste. Meinem Dorf.