Ein Tag in Leuna

Sebastian Flämig

 

Der Tag beginnt mit dem Läuten der antiken Standuhr meiner Großmutter. Zwölf dumpf klirrende Schläge. Mir ist dieser Klang vertraut. Hörte ich ihn doch schon so oft. Bei jedem Besuch schlug die Geisteruhr, wie sie liebevoll genannt wurde und löste doch immer wieder ein leichtes Unbehagen in meinem kindlichen Gemüt aus.


Heute bin ich nicht mehr zu Besuch, ich wohne nun hier und muss mich neu orientieren. Doch die Kleinstadt ist mir nicht fremd. Dank der unzähligen Aufenthalte bei meinen Großeltern kenne ich mich gut aus und kann mir Örtlichkeiten und Wege ins Gedächtnis zurück rufen. Die überschaubare Größe der Kleinstadt, oder vielmehr der zusammen geschlossenen Dörfer, erleichtert zudem die Eingewöhnung in den neuen alten Lebensraum. Während in der Vergangenheit: der alte Saalearm, das Waldbad, die Eisdiele, der Plastik-Park oder der Spielplatz zu den häufig frequentierten Orten gehörten, stießen seit meinem Umzug: die Bibliothek, das Rathaus, diverse Einkaufsmöglichkeiten, die Tankstelle und andere wichtige Orte, die man als junger Familienvater aufsucht, zu dieser Liste hinzu. Wir leben zu dritt in den beiden Erdgeschosszimmern des Hauses meiner Großmutter, das wiederum zu einem Mehrfamilienhaus gehört, das zusammen mit drei weiteren Häusern einen großen Kreiskomplex bildet. Die Altbauten erreichen mit ihren drei Etagen eine stattliche Höhe und in ihrer Komposition eine durchaus ästhetische Wirkung.


Das letzte Auto befuhr die Straße vor unserem Haus schon vor einiger Zeit, Frau und Kind ruhen wohl behütet im Schlafzimmer und der leichte Regen klopft gelegentlich an den Rollläden. Nachdem der zwölfte Schlag der Geisteruhr in den Weiten des Hauses verhallt ist, überkommt mich die Müdigkeit und ich schlafe ein. Ein jähes Ende erfahren meine Träume durch ein weiteres altbekanntes Geräusch, den zermürbenden Aufschrei des Feueralarms. Nein es ist nicht 17:00 Uhr am ersten Mittwoch des Monats, somit scheidet die Option Probealarm aus. 03:41 Uhr. Die Gedanken kreisen. Erst vor einigen Tagen wurde ein Radfahrer in der Nacht von einer Straßenbahn erfasst und getötet. Einer Straßenbahn die sich schon am Tag nur jede Stunde durch die Landschaft schlängelt und dadurch den Tod des Mannes noch viel unbegreiflicher macht. Während Unfälle mit Personenschäden in Großstädten leider fast täglich geschehen, ist es nahezu unmöglich mit einem dieser Gefährte auf dem Land zu kollidieren. Waren Drogen im Spiel? War der Straßenbahnfahrer abgelenkt oder übermüdet? Fragen, die wohl ungeklärt bleiben oder in einem großen Aufreißer die nächste Mitteldeutsche Zeitung zieren werden. Doch wie wahrscheinlich ist es, dass innerhalb von kürzester Zeit zwei Menschen auf diese Art zu Schaden kommen? Dieser berechtigte Zweifel bringt mich zurück. Ist etwas im Leunawerk passiert? Ein Risiko mit dem die Menschen hier seit Generationen leben. Mir sind jedoch keine größeren Unglücke bekannt und ich warte auf die Sirenen der Einsatzfahrzeuge, um eventuell etwas über den möglichen Einsatzort oder aber nur die Richtung zu erfahren. Es vergehen einige Minuten, in denen ich versuche aus dem durch das Werk hell leuchtenden Horizont zu lesen, ob sich irgendwo in dieser Richtung ein Flammenspiel am Himmel abzeichnet. Der Klang der Sirenen setzt ein. Erst wird er lauter, um sich anschließend diffus zu zerstäuben. Kein Anhaltspunkt wohin die Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr aufgebrochen sind. Die Industrieanlage wird nicht ihr Ziel sein, da die letzten Töne im Dunkel der dem Werk gegenüberliegenden Nacht verstummen. Mit einem „Wird schon nichts schlimmes passiert sein!" beschließe ich den inneren Monolog und setze meinen Schlaf fort.


Die Strecke ist kurz, jedoch siegt wieder einmal der müde und etwas träge Teil in mir und ich besteige mein Auto. Im Grunde genommen ist so gut wie jede Strecke, zu jedem Ort in dieser Gemeinde in wenigen Minuten zu bewältigen. Doch der morgendliche Weg zum Bäcker lässt sich so nun einmal am bequemsten bewältigen. Am Ziel angekommen habe ich die Wahl. Ich darf mich entscheiden, ob ich mich beim Bäcker für 2 Doppelbrötchen und ein halbes Mischbrot, oder beim Schreibwarengeschäft für die nächste Runde Samstagslotto anstelle. Schlangen vor Geschäften sind mir nur aus den Erzählungen meiner Eltern und Großeltern bekannt. Gespannt auf diese neue Erfahrung, reihe ich mich ein, kaufe meine Backwaren und kreuze vermutlich zum wiederholten Male die falschen Zahlen an.


Nach dem Frühstück treibt es mich nach draußen. Dorthin wo es mir der Zusatz im Ortsnamen proklamiert. Den Garten. Leuna ist seit Anfang des 20. Jahrhunderts als Gartenstadt konzipiert. In der Gartenarbeit versunken, habe ich Gelegenheit dieses Konzept an Ort und Stelle zu hinterfragen. Ist es das schlechte Gewissen, das an den Industriestandort gekoppelt ist? Möchte man der Natur etwas zurückgeben, nachdem man ihr große Flächen entrissen und höchst wahrscheinlich auch kontaminiert hat? Steht das Image der Stadt im Vordergrund und möchte man die tristen Komplexe hinter grünen Hecken verbergen? Oder gibt man den Einwohnern die Chance sich frei zu entfalten, kreativ zu werden, sich in ihrem Territorium abzugrenzen oder zu repräsentieren?


Zu jedem Altbau gehört ein mehr oder weniger großer Garten. Die Häuser müssen gemäß dem Denkmalschutzgesetz saniert werden und auch für den Außenbereich gelten zahlreiche Vorschriften. Insofern könnte meine Großmutter schon fast als Rebellin gelten, da sie das alte, steinerne Gartenhaus abgerissen hat und einen Zaun aus Metall setzen ließ. Die Selbstverwirklichung wird somit in einen Rahmen gezwungen und mitunter auch die Farbwahl des eigenen Gemäldes diktiert. Freigeister mögen sich hier vielleicht schon in ihren Rechten beschnitten fühlen, doch trotz vermeintlicher Monokultur bleibt Eintönigkeit fast völlig aus. Wenn ich einen Blick über die angrenzenden Zäune werfe, bestätigt sich dieses Bild. Während der Nachbar auf der einen Seite die Bepflanzung an den Rand des Grundstücks, als Sichtschutz zur Straße, verlagert und neben dem obligatorischen Gartenteich ein sehr gepflegtes Rasenstück angelegt hat, ertönen auf der anderen Seite, aus dem Dickicht des Gartens der Nachbarin, verschiedene Vogelstimmen. In unserem Garten ist die Übergangszone. Es befinden sich Bepflanzungen an den Zäunen, aber auch innerhalb wechseln sich unterschiedliche Baum- und Straucharten mit Rasenstücken ab. Seit meinem Einzug sind zu den Ziergehölzen auch noch Nutzpflanzen hinzugestoßen. Ein Versuch die moderne Gier nach Bioprodukten, durch deren Anbau im eigenen Garten zu befriedigen. Ob die Leunaasche, wie sie meine Großmutter nennt, das Potenzial dazu hat, für eine reiche Ernte zu sorgen, wird sich im Herbst zeigen.


Begleitet von rasselnden Rasenmähern, schreienden Kindern und zarten Vogelstimmen, lasse ich den Tag auf der grünen Gartenbank ausklingen. Es ist ein gutes Gefühl, zu wissen, dass man jederzeit Zuflucht und Beschäftigung hier draußen finden kann, wenn uns die Decke der Wohnung auf den Kopf zu fallen droht. Ein einziger Wermutstropfen ist der alles überblickende Schornstein des Leunawerks. Er stört die schönen Szenen dieser Stadt sogar in der Nacht. Gleich eines Leuchtturms, omnipräsent ruft der stumme Zeuge vergangener Tage sich stets ins Gedächtnis der Anwohner und setzt somit Industrie neben Idylle, Gefahr neben Geborgenheit und verschmutzt still unsere Natur.