Mein namenloses Dorf – „Feindliche Übernahme"

Martin Wohlgefahrt

 

Die Prämisse des Stückes „Feindliche Übernahme" von Thomas Steinert ist eigentlich simple Kapitalismus-/Globalisierungskritik und als solche in die Stadt verlegt: ein Ehepaar ist arbeitslos geworden, das Geld reicht hinten und vorne nicht mehr, und der einzige Ausweg scheint eine Entführung - Gegenleistung: die Rückgabe eines Arbeitsplatzes. Oder auch 6000 Arbeitsplätze. Man meint es ja bloß gut. Dass der Entführte ausgerechnet der ehemalige Firmenchef ist und dieser irgendwie gar nicht ausgetauscht werden kann, war allerdings nicht geplant. Der groteskenhafte Plot erfordert, dass sich der Entführte nun bei seinen Geiselnehmern häuslich einrichtet und die einfachen Leute „aus reiner Gutherzigkeit" zu großen Taten inspirieren will. Im Gespräch mit dem Schwager seiner Entführer, Leo, erhält der Firmenchef Strompp aber ein paar Lektionen erteilt, wohin der Fortschrittswille eigentlich führt. Leo erzählt von einem Dorf, in dem er mit seiner Schwester als Kind oft zu Besuch war. Die Infrastruktur war denkbar gut ausgerichtet: ein Fleischer, ein Bäcker, ein Kolonialwarenladen, ein stets betrunkener Friseur, ein Bücherzimmer, und eine Gemeindeschwesterstation nebst Gemeindeschwester. Die Implikationen zeichnen eine Dorfidylle: gute Anbindung an die Außenwelt, intakte Versorgungslage in guter Erreichbarkeit, privater Kontakt mit den Verkäufern und Dienstleistenden. Die Gemeindeschwester konnte mit ihren großen Händen alles kurieren, langfristige Behandlungen und Medikamente schienen nicht notwendig. Kurz: Das Dorf war autonom. Was man brauchte, war vor der Tür, notfalls auch Bänke für das gemeinsame Gespräch im Garten. Allgemeine Geschäftigkeit konnte vorausgesetzt werden. Vier Busse am Tag belegen zudem regionale Bedeutsamkeit: man kommt auch ins Dorf, wenn man etwas braucht, nicht umgekehrt.


Ganz anders dagegen ist das gegenwärtige Bild des Dorfes, das Leo im Anschluss beschreibt: „...eine Bierbude! Büchse Bier und Rohr zu elf achtzig das Stück. Fernsehen und Autos. Keine Bänke mehr vor den Türen." „Niemand mehr – tote Hose!" möchte man hinzufügen. Offensichtlich ist dabei schon die Reduzierung der umfassenden Grundversorgung auf eine einzige Sorte, die zudem nur niederste Bedürfnisse stillt, mehr noch: die dabei hilft, zu ertragen. Ohne Zweifel kann man auch von einer entsprechenden Stimmungslage im Dorf ausgehen. Die Bierbude ist Zentrum der gemeinsamen Kommunikation geworden, alle anderen Formen gemeinsamen Beisammenseins sind scheinbar auf die häusliche Atmosphäre heruntergestuft worden. Fernsehen ist das zentrale Interessengebiet. Zugleich ist der Wegfall der Busse und die Zunahme der Fernsehgeräte Indikator für die Veränderungen zur Außenwelt. Wer mit ihr in Kontakt treten möchte, kann das ganz individuell machen, in Anonymität. Spricht man mit Marcel Augé, so ist die Straße, das öffentliche Gemeinwesen des Ortes, ein Nicht-Ort geworden: man durchquert ihn als Transitraum, vielleicht auf dem Weg zum fernen Supermarkt, doch er hat seine Identität verloren und damit seine Geschichte.


Die Erwähnung des Dorfes und seiner Geschichte steht auch – wie Augés Definition – im Zeichen der Übermoderne: Vorangegangen sind diesem Gesprächsabschnitt Analysen über das K-Leben einerseits (Karriere, Koitus, Kinder...) und den Fortschritt andererseits. Der Musterkapitalist Strompp sieht darin das Voranschreiten des Marktes und seiner Ökonomie. Die Welt des Managements ist für ihn pure Evolution: Anpassung, Untergehen oder Siegen. Indem man sich den Bedürfnissen des Marktes anpasst, bringt man seine Firma durch, und die anonyme Masse der Unterschicht hält in diesem Prozess nur auf. Leos Geschichte dient dazu, aufzuzeigen, was bei diesem Kampf auf der Strecke bleibt. Für ihn ist die Rücksicht auf die Langsamkeit, die Individualität ein prägendes Merkmal der Gesellschaft – aus diesen Gründen ist er sowohl Linker als auch ausgeprägter Einzelgänger. Für ihn stellt sich die Frage, ob dieser Niedergang der einfachen Leute wie jener im Dorf, diese Einpressung von Individuen in das oben genannte K-Leben, wirklich ein Fortschritt für die Menschheit sein kann. Denn die Segnungen des Marktes kommen in seinem Denken nur einer kleinen Schicht zugute.


Insgesamt steht das Dorf also stellvertretend für verschiedene Konflikte der Globalisierung. Es wird als kleinste, anschaulichste Einheit im Spiel der gesellschaftlichen Kräfte betrachtet, als ein perfektes Zusammenspiel von individueller Selbstentfaltung und Einordnung in das regionale Gefüge. Es ist von einem Fortschritt bedroht, der Individuen ungewollt in die Anonymität treibt und die Unterschicht im Fortkommen nicht unterstützt, sondern sogar im Regelfall hemmt. Das Stück „Feindliche Übernahme" fordert anhand seines Beispiels eine gesetzliche Grundversorgung, aufgrund derer die Menschen eine größere Freiheit über ihr Schicksal erhalten und notfalls auf staatliche Zuwendungen verzichten kann. Im Endeffekt wird diese Lösung jedoch als „nach hinten" gedacht von Strompp abgetan und findet im Stück daher keine Umsetzung.