Neu-Wilhelmsdorf, Wertheim Village und der Wiederaufbau der Frankfurter Altstadt: Einfluss dörflicher Strukturen auf die Architektur der Gegenwart

Martin Bredenbeck


Derzeit fallen aus kunsthistorischer Sicht in Architektur und Städtebau markante Strukturen auf,
die mehr oder weniger deutlich an frühere Dorfstrukturen anknüpfen und einen Vergleich
nahelegen. Drei charakteristische Beispiele:

  1. In der Nähe historischer Dorfkerne entstehen weiterhin Neubausiedlungen ("Neu-Wilhelmsdorf"). Sie entsprechen zumindest in ihrer Gesamtanmutung als geordnete Gruppierung freistehender Ein- und Mehrfamilienhäuser dem landläufigen Bild eines Dorfes. Außerdem werden hier als Ausdruck des gegenwärtigen Stilpluralismus' und der gegenwärtigen ästhetischen Bedürfnisse breiter Schichten zahlreiche bauliche Anspielungen auf historische Architektur sichtbar. Merkmale des Außenraumes wie einheitliche Bodenbeläge und Beleuchtungskonzepte oder die Namensgebung der Straßen verknüpfen das Ensemble der Häuser, das aber seinerseits wenig mit der Umgebung verknüpft ist.
  2. Waren die großen Kaufhäuser früher oft kompakte Quader, gibt es nun einen Trend, ganze Outlet Stores in kleinteilige Dorf-Erlebniswelten aufzulösen ("Wertheim-Village"). Diese sind natürlich organisatorische Großkomplexe, aber optisch stark untergliedert. Einkaufen wird wie stets als Erlebnis inszeniert, in solchen Fällen mit Anspielungen auf dörfliche Strukturen und historische Architektur.
  3. Auch in den Innenstädten ist das probehalber so genannte Dorf-Motiv wirksam. Beispielsweise zeigt sich das an einer eher an Vororte erinnernden Bauweise von Neubauten selbst in urbanen Zentren, vor allem aber an der bewussten Rekonstruktion längst nicht mehr vorhandener Bauten und Bauensembles. Besonders interessant sind die Fälle, in denen solche Rekonstruktionen die Zeitschicht der Nachkriegsmoderne ablösen, die dafür abgerissen wird ("Neue Altstadt Frankfurt").

Mit dem Dorf als sozialer und wirtschaftlicher Struktur und mit der historischen Grundrissbildung und Architekturstilistik haben diese drei Formen nur ausschnitthaft etwas gemeinsam. Sie stellen freie Aneignungsweisen dar. Das Neubaugebiet ist nicht mehr der Dorfverband: Kirche und Geschäfte bleiben unten im Dorf, die neuen Häuser sind oben auf dem Berg. Auch die Outlet Stores beziehen sich stilistisch nur auf allgemeine, leicht erkennbare Stilelemente aus der Dorftradition und rekombinieren diese, wohl stets geleitet von der Absicht, eine Atmosphäre zu kreieren, die als hochwertig und absatzsteigernd empfunden wird. Besonders interessant ist die Rekonstruktion historischer Altstadtzusammenhänge, da hier die zwischenzeitlich erfolgten authentischen Veränderungen der Stadtgeschichte bewusst ausgeblendet werden. Es entsteht letzten Endes ein Museumsdorf in einer Stadt, deren Gesamtbild längst von anderen städtebaulichen Paradigmen geprägt ist.
Für die Kunstgeschichte sind diese Formen der Rückkehr des Dörflichen interessant und wichtig zu beobachten. Sie gefährden nämlich latent den Bestand dessen, mit dem sich das Fach beschäftigt. Das ist einerseits das, was man vielleicht das "echte Dorf" nennen kann, die historische Bausubstanz alter Dorfkerne, in denen Leerstand und Abbruch von Baudenkmälern zunehmen, andererseits die Epoche, deren Erforschung und Bewertung gerade zu bewerkstelligen ist, also die Moderne. Durch freies Zitieren und die Idee der Wiederholbarkeit von Architektur wird der Blick auf die historische Substanz und das historische Wachstum der Dörfer verstellt, so dass deren Wertschätzung abnimmt. Man möchte den neuen Strukturen also skeptisch
gegenüberstehen. Andererseits soll die Chance nicht geleugnet werden, dass beispielsweise die neuen Siedlungen eines Tages zu veritablen (neuen) Dörfern heranreifen könnten.
Das "echte Dorf" ist parallel Gegenstand interessanter Überlegungen: Seit Ende der 1990er Jahre ist der Wettbewerb "Unser Dorf soll schöner werden" zu "Unser Dorf hat Zukunft" geworden. Hier geht es also nicht mehr um Schönheit, wie sie die neuen Dörfer relativ vordergründig anbieten. Vielmehr stehen strukturelle Überlegungen im Vordergrund. Beispielsweise arbeitet die
Kulturlandschafts- und Heimatpflege darauf hin, die Landschaft wieder stärker in den Dorfzusammenhang einzubeziehen und die Verbindungen (wieder-)herzustellen.

 

Tagung Imaginäre Dörfer | Halle | 05.09 - 07.09.2013