Eskapismus ins Außerirdische: Das Dorf als post-utopischer Raum in Arno Schmidts KAFF auch Mare Crisium und Jan Brandts Gegen die Welt

Jeanine Tuschling

 

In Arno Schmidts Roman „KAFF", der die Ablehnung des Ländlichen schon im Titel kundtut sucht der Protagonist nach dem „Sputnikschock" gemeinsam mit seiner Partnerin die ländliche Idylle der Lüneburger Heide auf, um sie von einem gemeinsamen Leben auf dem Lande zu überzeugen. Bereits in den ersten Zeilen des Romans wird jedoch deutlich, dass die utopische Hoffnung auf das freiere Landleben ad absurdum geführt werden wird. Statt Idyll nur Langeweile und industrialisierte landwirtschaftliche Produktion. Statt freieres Atmen und Denken auf dem Lande nur vom Wirtschaftswunder gesättigter Ennui und Engstirnigkeit. Der Roman verschränkt zwei Realitätsebenen, denn statt die Geliebte durch die nur schwer auszumachenden Reize des Landlebens für seine eskapistischen Phantasien zu gewinnen, beginnt der Erzähler, ihr eine Geschichte zu erzählen, die in der Zukunft, genauer, im Jahr 1980 nach der atomaren Zerstörung Deutschlands spielt. Weil das Dörfliche längst Teil der hochkapitalistischen Landwirtschaftsindustrie ist, inszeniert Schmidt das Außerirdische als den letzten Ort der Realitätsflucht, doch auch dort werden die irdischen Konflikte wie der kalte Krieg weitergeführt.


Jan Brandts Roman „Gegen die Welt" beschreibt eine Jugend im ländlichen Niedersachsen der 80er Jahre. Wie auch bei Schmidt ist hier der Antagonismus von Stadt und Land bereits im Titel sichtbar. Und auch hier ist die Provinz kein utopischer Raum mehr außerhalb der Gesellschaft, sondern Ort ihrer schärfsten Konflikte. Das Dorf trägt nicht zu Unrecht den Namen Jericho, der an den Untergang der gleichnamigen Stadt in der Bibel gemahnt, denn der Roman beschreibt den Niedergang des Dörflichen. Die einstige „Gegenwelt" zur Verdorbenheit der Großstadt ist längst von den Gesellschaftskonflikten der Industriegesellschaft eingeholt worden. Die noch verbleibenden Geschäfte im Dorf, wie etwa die Drogerie des Vaters oder der lokale Lebensmittelhändler, werden von Ketten verdrängt, und der Baugrund wird nach und nach von einem Baumagnaten aufgekauft. Die Industrie- und Landwirtschaftsanlagen, die bei Arno Schmidt noch blühen, stehen nur noch als verrottende Ruinen der Globalisierung in der Landschaft herum. Die Elterngeneration versucht dennoch, ihr kleines, behütetes Leben beizubehalten, indem allem Fremden und Andersartigen mit heftiger Ablehnung und Aggressivität begegnet wird. Der Protagonist des Romans erzählt diesen aus der Retrospektive, nachdem ihm die Flucht aus der Enge des Dorfes in die nächstgelegene Metropole und in einen neuen Lebensentwurf gelungen ist. Das Dorf ist für ihn weniger eine geographische Entität als vielmehr eine paranoide Phantasie: „Das Dorf war überall. Das war die Erkenntnis, die sich langsam in ihm ausbreitete. Er müsste schon sehr weit laufen, sehr weit fahren, um zu entkommen. Aber was dann? Was dann? So weit reichte seine Vorstellungskraft nicht aus." (Brandt 2012, S. 134) Ein aggressiver Übergriff gegen ihn wird zum Angriff von Aliens hochstilisiert. Einzig in der Furcht der Dorfbewohner vor dem Außerirdischen kehrt der utopische Rest, der einstmals dem dörflichen Idyll innewohnte, als unheimlicher Wiedergänger zurück.


Beide Romane zeigen das Dorf in der frühen und in der ausgehenden Bundesrepublik als einen Ort, der keinesfalls der postmodernen Welt entrückt ist, sondern vielmehr ihre wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen auf besondere Weise sichtbar macht. Auch in der physischen Textgestalt des Buches erkunden die Dystopien von Schmidt und Brandt den utopischen Raum von Dorf und Literatur. Der Textraum wird in verschiedene typografische Elemente zerlegt, die dem Leser verschiedene Lektürepfade eröffnen, auf denen er die Topographie des Textes erfahren kann. Der Vergleich soll zeigen, dass der literarische Topos des Dörflichen in der Literaturgeschichte der jüngeren und jüngsten Gegenwart in Bezug auf die Reflexion des utopischen Raums angesichts der Entwicklungsprozesse von Moderne und Globalisierung eine besondere Wirkung entfaltet.

 

 

Tagung Imaginäre Dörfer | Halle | 05.09 - 07.09.2013