Das Jahrhundertdorf. Moritz Rinkes Roman Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel als raumzeitliche Verdichtung deutscher Geschichte im Dorf Worpswede

Johanna Canaris (Paderborn)

 

Moritz Rinkes 2010 erschienener Roman „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“ verdichtet die komplexe deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts in Ereignissen in dem kleinen niedersächsischen Künstlerdorf Worpswede. Raum und Zeit werden hier miteinander in eine enge Beziehung, ähnlich dem Bachtin’schen Chronotopos, gesetzt. Die vergehende Zeit und der feststehende und in Form des Dorfes vordergründig überschaubare Ort kommen hier zusammen.
Das Bild, das der Roman im Titel trägt, das „Durch-das-Jahrhundert-Fallen“ ist hier mit der Durchlässigkeit des für Worpswede charakteristischen Moors verknüpft: Das Moor verschluckt die Geschichte – in Form einer vom Großvater des Protagonisten gefertigten Bronzeskulptur des ersten NS-Reichsbauernführers – die dann zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt wieder auftaucht. So kommt die eigentlich vergangene Zeit, die in allen ihren Auswirkungen für die Familie des Protagonisten Paul eben nicht vergangen ist, durch den scheinbar festen Boden wieder zum Vorschein. Konkret äußert sich dies auch in einem „Grundbruch“ des Hauses.
Ebenso wie das Dorf ist die Familie des Protagonisten eine exemplarische Anordnung der Verkleinerung, um die Phänomene und Effekte der Geschichte in einem überschaubaren Rahmen erfahrbar zu machen. Der Protagonist muss sich von Berlin, wo er eine Galerie für zeitgenössischer Kunst betreibt, erst nach Worpswede begeben, um sowohl die Geschichte seiner Familie und seiner eigenen Herkunft zu ergründen als auch die tönernen Füsse der Gegenwart zu erkennen.
Das Jahrhundertdorf Worpswede scheint zudem aus der Zeit gefallen zu sein und sich von der Welt abzusondern. Deutlich wird dies unter anderem an der Tatsache, dass Worpswede jedes Jahr einen „Künstler des Jahrhunderts“ aus der eigenen Künstlerkolonie wählt. Doch der Schein trügt, das Dorf ist längst – in der Figur des „Dorftrottels“ Nullkück – über das World Wide Web mit der Außenwelt verbunden.
Ästhetisch wird das Thema auch in der Anlage des Romans umkreist, die unterschiedlichen Zeitebenen durchbrechen immer wieder die Linearität der eigentlichen Erzählung; zudem beginnt der Roman mit einem „Prolog vom Ende“, in dem der Protagonist im Moor sitzt, so dass auch hier die zeitliche Dimension vom Raum, dem Moor in Worpswede, aufgehoben scheint.

 

 

Tagung Imaginäre Dörfer | Halle | 05.09 - 07.09.2013