Die geplante Monografie untersucht die zeitgenössischen Formen, Funktionen und Themen deutschsprachiger Dorfgeschichten im Kontext aktueller gesellschaftlicher, kultureller und literarischer Tendenzen. Die Untersuchung soll einen Bogen schlagen von der auch publikumswirksamen Wiederaufnahme der Gattung „Dorfgeschichte“ zu Beginn der 1990er Jahre durch Robert Schneiders Bestseller Schlafes Bruder über die literarische und thematische Breite der Bearbeitungen der Dorfthematik u.a. bei Herta Müller, Arnold Stadler, Andreas Maier und Katharina Hacker bis hin zu den jüngst sehr erfolgreichen Werken Vor dem Fest von Saša Stanišić und Ein ganzes Leben von Robert Seethaler. Den zu untersuchenden Dorfgeschichten kommt, so eine der leitenden Hypothesen, in der zeitgenössischen Literatur eine eigenständige ästhetische Qualität zu. Es lässt sich hier von einer „neuen Dorfgeschichte“ sprechen, die mit (post-)modernen literarischen Mitteln aktuelle globale und regionale Probleme verhandelt und dabei nicht nur Wissen über bestimmte Formen des Zusammenlebens narrativ erzeugt, sondern auch hinterfragt. Imaginäre Dörfer fungieren dabei wie Laboratorien, in denen die unterschiedlichsten persönlichen, historischen und regionalen Erfahrungen mit philosophischen, anthropologischen und politischen Theorien und Theorieversatzstücken gepaart und in einem vermeintlich überschaubaren und handhabbaren Kontext experimentell erprobt und reflektiert werden können.

 

Im besonderen Fokus der Untersuchung steht dabei auch die Erarbeitung einer projektübergreifenden Methodik. Gegenwärtig befinden sich Imaginationen des Dörflichen wieder im Mittelpunkt gesellschaftlicher Diskurse. Die dabei verwendeten Dorf-Bilder lassen sich auch als literarische Modelle verstehen und analysieren, mit denen sowohl politische, ökonomische, soziale und historische Situationen und Zusammenhänge dargestellt als auch erkenntnistheoretische und lebenspraktische Fragen thematisiert und reflektiert werden. Literarische Dörfer können als kulturelle Experimentierfelder und Medien der Wissensfigurationen verstanden werden, in und mit denen individuelle und kollektive Selbst- und Fremdbilder nicht nur geschaffen, sondern auch wirkmächtig werden. Es ist dabei zu fragen, wie die lebensweltliche Geltung und soziale Rückwirkung dieser imaginären Modelle in ihren je spezifischen Formen der Inszenierung nachvollziehbar gemacht und somit der Übergangsbereich und das Wechselverhältnis von Literatur, sozialräumlicher Orientierung und Landschaftsplanung bzw. -gestaltung begrifflich beschrieben werden kann. Hierfür bietet sich bspw. in Anlehnung an Paul Ricœur eine konzeptionelle Differenzierung von ‚präfigurierten’, ‚konfigurierten’ und ‚refigurierten’ Räumen des Dörflichen an. Dabei lässt sich anhand des Begriffs der Figuration zwischen den verschiedenen Polen und Ansatzpunkten des Gesamtprojekts – literaturwissenschaftliche Hermeneutik, sozialhistorische Forschung und landschaftsarchitektonische Planung – auf unterschiedlichen Ebenen vermitteln, das Ineinandergreifen von Text- und Lebenswelt thematisieren und der Einfluss imaginärer Modelle von Dorf, Landschaft und Natur sowohl auf das individuelle und soziale Denken und Handeln als auch auf die konkrete Raumplanung und -gestaltung nachverfolgen.

Dr. des. Marc Weiland (Halle-Wittenberg)