Ist das Dorf eine Lebens- und Sozialform, die Zukunft hat? Politische Neuordnungen, Veränderungen der Erwerbsstrukturen, demografischer und infrastruktureller Wandel führen in Europa und darüber hinaus in globalen Zusammenhängen zu grundlegenden Umgestaltungen bislang eher traditionell geprägter menschlicher Lebenswelt(en). Diese Veränderungen machen auch vor einer der ältesten Wohn- und Beheimatungsformen der europäischen Zivilisationsgeschichte nicht Halt: dem Dorf. Während Industrialisierung und Modernisierung im Blick auf die „globale Stadt" nicht nur zur Entstehung von Mega-Städten, stadtähnlichen Landschaften, weiträumigen Stadt-Landkontinua und damit verbunden zu einer Aufladung des Stadtraums mit unterschiedlichen Nachbarschaften, Erfahrungsräumen, multikulturellen Lebenswelten und neuartigen Orten der Zusammenführung von Menschen (von Marktplätzen über Kulturzentren bis zu den „Nicht-Orten" der Flughäfen, Shopping Malls und Fastfood-Restaurants) geführt haben, scheint die Welt des Dorfes vor diesem Hintergrund vornehmlich der Vergangenheit oder Folklore anzugehören und lediglich als Rand bzw. Gegenbild zur modernen Lebenswelt zu existieren.

 

Gerade dies macht aktuell jedoch wohl auch den Reiz und die Attraktivität des Dörfischen aus. Denn trotz – oder vielleicht sogar: wegen – des aktuellen soziostrukturellen Aussterbens ruraler Landstriche und Siedlungsformen feiert das Dorf nicht nur im Rahmen der gegenwärtig wahrnehmbaren „Land-Euphorie" eine zumindest imaginäre Wiederauferstehung, die sich nahezu durch alle gesellschaftlichen Bereiche zieht. Zum beständigen Interesse an Inszenierungen des Ländlichen (vom bayrischen Oktoberfest über die Volksliedparade bis zu „Bauer sucht Frau") gesellen sich lebensreformerisch angehauchte Praktiken (wie „urban gardening") sowie massen- und popkulturelle Vereinnahmungen von „Landliebe" und „Landlust", welche allesamt sowohl auf die allgemeinen Vorstellungen einer „guten Stadt" und eines „guten Lebens", aber eben auch auf reale Stadt-, Siedlungs- und Raumplanung ausstrahlen. Damit ist das Dorf nicht mehr nur ein Ort, auf den sich gegenwärtige und vergangene (literarische) Sozialkritik bezieht – es wird selbst zum Mittel der Sozialkritik und zum Ansatzpunkt einer städte- und landschaftsplanerischen Neuausrichtung. Ländliche Strukturen erhalten Einzug in die Stadt, Dörfer werden städtisch ausgerichtet. Die einstmals statische und vielfach in sich geschlossene Lebenswelt des Dorfes gerät in Bewegung. Das imaginierte Dorf erscheint – auch angesichts diverser gesellschaftlicher Krisen – nicht nur als rückwärtsgewandte Utopie und lebensferne Idylle, sondern als eine ebenso individuell zugängliche wie sozial herstellbare Heterotopie, die neue (alte) Sinnhorizonte politischer, wirtschaftlicher und individueller Art eröffnet.

 

Angetrieben wird diese imaginäre Vergegenwärtigung bzw. Wiederkehr des Dörfischen von einer Vielzahl literarischer und filmischer Dorf- und Landgeschichten, die die subjektiven und kulturellen Erfahrungs- bzw. Wahrnehmungsweisen von Orten verbildlichen, verdichten und ggf. auch verzerren – und dadurch auf direktem und indirektem Wege gleichermaßen orientierend und desorientierend auf unsere Welt- und Selbstwahrnehmung wirken. Es stellt sich hierbei die Frage, in welcher Weise imaginäre Raumbilder und Raumordnungen den rein physikalischen Raum überlagern, diesen in einer spezifischen Weise lesbar machen und damit die Positionierung und das Verhalten des Menschen in und zu ihm bestimmen. Dadurch haben sie nicht zuletzt auch Einfluss auf den Prozess der Konstituierung kultureller und individueller Selbst- und Fremdbilder. Gerade in der zeitgenössischen Literatur lässt sich dabei eine enorme Breite und Vielfalt der Dorf-Bilder verzeichnen: Romantische bzw. romantisierende Paradiesvorstellungen stehen gegen Leib und Seele versehrende und verzehrende Lagersituationen. Die Reise in bzw. das Entkommen aus dem Dorf kann gleichermaßen Anfangs- und Endpunkt von Selbstfindung und Selbstentfremdung bedeuten. Das literarisierte Dorf erscheint hier mitunter als ein Laboratorium, in dem die verschiedensten philosophischen, soziologischen und politischen Entwürfe dargestellt, durchgespielt und reflektiert werden können – und das dadurch nicht nur einen Erinnerungs-, Wunsch- oder Projektionsraum bietet, sondern auch einen Vorrat an Vorstellungen und Formen für konkrete Raumplanung und Siedlungsgestaltung. Aus dieser Perspektive ist auch zu fragen, inwiefern künstlerische Imagination und konkrete regionale und überregionale Raumgestaltung ineinander übergehen und miteinander verschränkt werden können.

 

 

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