„Wenn es uns nicht gelingt, die Wahrheit herauszufinden, ist der innere Frieden dieser Gemeinschaft verloren“, so der Baron vor der versammelten Gemeinde des laborhaft fiktiven Dorfes Eichwald in Michael Hanekes Film Das Weiße Band. Dort tragen sich an der Schwelle zu den ungeheuren weltgeschichtlichen Transformationen nach 1914 jene Ereignisse zu, die – geprägt von „Böswilligkeit, Neid, Stumpfsinn, Brutalität“ (Baronin) – bis zum Ende ihrer endgültigen Aufklärung harren. Nicht einmal das Wort des Obersten der Gemeinschaft weiß dabei das Spiel von Wahrheit und Lüge zu entwirren, hat doch der Baron dem Bericht seiner Frau von einer Affäre mit einem italienischen Bankier nichts anderes zu entgegnen als: „Du lügst, nicht wahr?“ Geschwunden scheint im Dorf das Prinzip von „invariant vorgefundenen Wahrheiten“, wie sie gemäß N. Luhmann Gesellschaften abhanden gekommen sind, deren systemische Funktionsweise sich einzig aus sich selbst, d.h. qua Verfahren zu legitimieren hat.
Im Dorf ist dabei mit dem Verlust des Wahrheitsanspruchs auch der Anspruch auf den Zusammenhang und Frieden der Gemeinschaft in Gefahr. Ebenso wie schon nach F. Tönnies Elemente des (dörflichen) Systems der Gemeinschaft im Städtischen überleben (z.B. die Freundschaft), ragen nun bei Haneke Elemente des Gesellschaftlichen in die Ordnung der dörflichen Gemeinschaft hinein, ja entspringen dieser sogar.
So ist es paradoxerweise gerade die dörfliche Ordnung, der die Mitglieder und vor allem die Kinder entwachsen, die die Ordnung des Dorfes und mit ihr den „inneren Frieden der Gemeinschaft“ selbst beschädigen. Fraglich wird damit, dass allein der Stadt die „Atmosphäre von Gespanntheit“ anhaftet, „in der die schwächeren niedergehalten und die starken zu den leidenschaftlichsten Selbstbewährungen angereizt wurden“ (G. Simmel). Bei Haneke nämlich ist der Ort solcher Gespanntheit das Dorf. So ist die Flucht der vom Arzt erniedrigten und ihren behinderten Sohn durch die Gewalt der Kinder misshandelt findenden Hebamme die Flucht in die Stadt. Mein Vortrag versteht sich als Beitrag zu einer kulturellen Verortung des Dorfes in Zeiten seines Schwindens sowie der Grundlage dieses Schwindens in der Veräußerbarkeit eines bedingungslos gültigen Wahrheitsgefüges. Laborbedingungen, wie sie Hanekes Film vorgefunden werden, machen diesen Prozess aufs deutlichste lesbar. Die breite Zustimmung, die der Film erhalten hat, scheint Beleg für die Glaubhaftigkeit der Laboranordnung zu sein.
Tagung Imaginäre Dörfer | Halle | 05.09 - 07.09.2013