Heimat als Straßennetz. Erklärung zu WEIHNACHTEN

Maria Junker

 

Ich bin die, die zu Weihnachten nicht da ist.
Weihnachten ist nicht die eingeschneite Ruhe im Haus der Kindheit. Weihnachten ist eine minutiös durchstrukturierte Woche aus dem Hallo und Tschüss der Menschen, deren Nasen und Knie ich geerbt habe und den Schnellstraßen und Luftlinien mehrerer Länder.


Weihnachten ist der Rücksitz in den Autos all meiner Eltern, die sich trennen und sich kennenlernen und umziehen und umziehen und die Gegenstände meiner Kindheit unter sich aufteilen und schließlich in Pappkartons auf immer neue Dachböden stellen. In Ruhland in der Niederlausitz geht die Bahnhofstür nicht auf, weil sie klebt. Im Südharz steht ein Mammut im Museum und alle anderen sind ausgestorben. Im Hause meines Vaters language changes mid-sentence. Weihnachten ist Schokolade bekommen im Flugzeug und Taschenrumpeln an Hauptbahnhöfen. Wer überall nur einen Tag lang bleibt, wird überall herzlich begrüßt. Wer überall nur einen Tag lang bleibt, wird gefragt, warum er überall nur einen Tag lang bleibt.

Am Anfang waren wir wenig. Jetzt sind wir überall. Und ich soll meine Heimat erzählen.


Von der Alt- und Mittelhochdeutschen Bezeichnung des Hauses, der „Heimstatt" (Piltz 61), über die frühneuzeitlichen Reiseberichte der Entfernung zum „Vaterland“ (Gebhard 8f.) bis zu den Gefühlen kollektiver Heimatlosigkeit im 20. Jahrhundert, bleibt Heimat in der Vorstellung „stets die Region der eigenen Kindheit. Diesen Raum kann man als geographischen Punkt auf der Landkarte bestimmen und auch abschreiten.“ (Hüppauf 112). Eine Definition des geographischen Raumes Heimat kann die Dimension der Vergangenheit dieser Kindheit jedoch nicht abdecken und so gehört zum individuellen Heimatbegriff noch etwas mehr – die fiktionale Narration der eigenen Identität. „Beschrieben wird ein mehr oder weniger diffuses Zugehörigkeits- und Vertrautheitsgefühl zu einem begrenzten Territorium. Dieser Lebensraum stellt Routinen und Erwartbares bereit.“ (Gebhard 10) Das Konstrukt Heimat kann nicht gedacht werden ohne sich wiederholende Strukturen, die im Gedächtnis eingelagert und nacherzählt werden können. Diese Narration kann, da sie aus selektierten Erinnerungsfragmenten zusammengesetzt wird, nicht linear verlaufen sondern lediglich verschiedene Einzelpunkte und sich überlagernde Handlungsstränge zu einer Art Stoffsammlung anhäufen, deren zeitliche Verortung nicht abgeschlossen in der Vergangenheit liegt, sondern immer weitergeschrieben wird (vgl. Hüppauf 115). Die Voraussetzung zur Bestimmung einer solchen Raum-Zeit-Einheit ist ein sich darin verortendes Individuum. „Raum, Zeit und Identität drängen sich angesichts der Deutungsgeschichte von Heimat als Vokabeln auf, die Dimensionen angeben, welche sich durch die verschiedensten Heimatkonzeptionen durchziehen und an die sich verschiedene Bestimmungen anlagern. So finden sich viele Herleitungen, die Heimat als Näheverhältnis von Mensch und Raum vorstellen, das Identifikation und Identität hervorbringt.“ (Gebhard 10) Die Parameter Nähe und Distanz bestimmen dabei nicht nur die Entfernung von geographisch verortbaren Plätzen der Kindheit sondern auch das Netz aus sozialen Beziehungen (vgl. Piltz 62f.).

 

Ein weiterer Punkt für die Beschreibung des Distanzverhältnisses des Ich zu den Orten, Erlebnissen und Menschen seiner Heimat, ist die Bemerkung, dass die Gedanken an diese Heimat oft erst auftauchen, wenn sie unerreichbar scheint. Heimat ist nicht ohne Verlust zu denken; sie wird zum unmöglichen Sehnsuchtsort glorifiziert. (Pfarr 3f.) Der Begriff Heimat erhält in der Kunst und in den Medien, nachdem er in den letzten Jahrhunderten grausam ausgenutzt wurde, eine Neugestaltung. „Mit Heimat verbundene Vorstellungen, (…) sind heute weniger retrospektiv, als vielmehr projekthaft in die Zukunft gerichtet, und sie knüpfen nicht unbedingt an schicksalhaft bestimmte Orte.“ (Pfarr 7)

 

In unserem Jahrhundert sehen wir zu, wie Menschen gezwungen werden ihre Heimat zu fliehen und in ihrem Gedächtnis weiterzutragen, wenn die Gegenstände und Orte zerstört und die Menschen umgebracht werden, die ihre Heimat einmal ausgemacht haben. Wie stelle ich in einer solchen Zeit meine Heimat dar? Wie erzähle ich mir meine Kindheit und welches Heimatverständnis kann ich anderen Menschen damit vermitteln?

 

Die Karte WEIHNACHTEN zeigt all die Wohnorte der Personen, die ich in der Woche vom 23. bis zum 31. Dezember besuche in der Reihenfolge, in der ich sie besuche. Um die Personen, die meine Heimat sind, in einem Spaziergang zu besuchen brauche ich, so Google Maps, 704 Stunden. Man weist mich freundlich darauf hin, dass auf der Route eine Fährstrecke liege und sie mehrere Grenzübergänge beinhalte.

 

Ich bin privilegiert. In meiner Lebenswelt bedeutet ein Umzug keinen Verlust sondern eine Freiheit. Ich bin in einer Zeit geboren und aufgewachsen, in der die Kommunikation über Ländergrenzen zu jeder Zeit und von jedem Punkt aus möglich ist, in der junge Menschen sich Reisen und Auslandsaufenthalte leisten können, dazu angeregt werden, dazu aufgefordert werden. In der Grenzen (noch) offen sind. Ich lebe außerdem in einer Familie, in die neue Gesichter kommen und ich bin in dem Verständnis aufgewachsen, dass eine Familie keine statische Einheit sein muss. Ich lebe mit der Möglichkeit, mir in jedem kahlen Zimmer ein Zuhause zu dekorieren.

 

Was immer bleibt sind die Rituale. Weihnachten als der regelmäßige Versuch diese Verbindungen zu festigen und sich zu besuchen, woauchimmer. Was immer bleibt ist Heimat als Netz. Ein Straßennetz tuts dabei auch.