Ein ganz gewöhnlicher Tag
Robert Oertel
Es war ein Tag wie alle anderen Tage. Die gütige Morgensonne umarmte das Dorf freundlich, der Hahn hatte brav drei Mal gekräht, der Geruch von frisch gemähtem Heu vermischte sich in seiner Nase mit dem Gestank der Kühe. Und doch war Iwan erwacht mit dem unguten Gefühl im Magen, dass irgendetwas fehlte, eine wichtige Kleinigkeit, die dazu gehörte, und ohne die der Tag nicht beginnen durfte. Er stieg, ohne sein gewöhnliches Lächeln zu tragen, aus dem Bett, ging, nein, lief eher zur Tür und warf einen noch nicht ganz wachen Blick ins Nachbarzimmer. Da standen die staubigen Bücherregale, Lenin und Stalin starrten wohlwollend von den Wänden auf ihn herab, auf dem Fenster stand der alte Plattenspieler und im Sessel schlief sein Großvater seinen gerechten Schlaf. In Iwan war alles erstarrt, als hätte jemand mit einem großen Hammer sein Herz in tausend Stücke zerschlagen. So stand er auf der Türschwelle, wollte weinen, konnte es doch nicht, und wollte wegrennen, und konnte dies noch viel weniger. Nachdem er vielleicht nur ein paar Minuten, vielleicht aber auch Stunden oder gefühlte Jahre in das ihm einst so vertraute, nun so fremde Zimmer gesehen hatte, schalt er sich selbst einen Dummkopf. Was hatte er denn erwartet? Hätte dies nicht ohnehin eines Tages eintreten müssen? Er musste jetzt die Ruhe bewahren. Schließlich gab es so viel zu tun, und wenn er es nicht tat, würde sich niemand darum kümmern. Erst einmal musste jemand den Plattenspieler bedienen, ja, die Musik hatte wie jeden Morgen zu erklingen. Es kam ihm so vor, als würde vor ihm eine seltsame, unwirkliche Welt beginnen, die nicht für ihn gemacht war, und in die er nicht hingehörte. Von unbeschreiblichem Grauen gepackt hechtete er durch das geisterhaft stille Zimmer bis zum Plattenspieler. Es brauchte mehrere Anläufe bis endlich Rachmaninows zweites Klavierkonzert die schweigende Welt in ein zweifelhaftes Licht hüllte. Iwan öffnete lächelnd das Fenster und sagte mit fester Überzeugung: „Es ist alles wie immer!"
Nun machte er sich auf in den Stall, um die Kühe zu melken. Seine liebste Kuh Warja war schon wach und sah ihn mit mütterlicher Herzlichkeit an. Er tätschelte sie, überhäufte sie mit Kosenamen und Komplimenten. Es lag wohl an seinen zitternden Händen, dass sie heute weniger Milch gab als üblich. Dass niemand in den Stall kam, um ihm einen guten Morgen zu wünschen und ein weises Wort loszuwerden, war auch nicht weiter von Bedeutung. „Guten Morgen!", sagte er zur Kuh. Diese sah ihn ungläubig an und muhte. Er fühlte sich dadurch ermuntert, und führte ein kurzes, nettes Gespräch. „Wie hast du geschlafen, Großvater? Ja, schlecht wie immer. Das Alter, ich weiß. Was macht der Rücken? Heute hat er sich noch nicht gemeldet? – Wie schön!" Es machte ihm nichts aus, dass sein Großvater, der eher ein guter Zuhörer als ein Redner war, auf keine seiner Fragen antwortete. Jedenfalls versuchte er sich dies einzureden. So klang seine Stimme schon ein wenig brüchig, als er erneut beteuerte: „Es ist alles wie immer."
Was für eine Erleichterung war es für ihn, dass er keine Zeit zum Nachdenken hatte, weil er sich jetzt um die Hühner kümmern musste. Er trat hinaus in den Hof, und betrachtete verträumt das uralte Bauernhaus, in dem unzählige Generationen seiner Familie gelebt hatten und in dem auch er geboren worden war. Niemals hätte er es gegen so eine dieser neumodischen Wohnungen in den kalten, seelenlosen Hochhäusern der Stadt eintauschen wollen, nicht mal gegen den Palast eines Maharadschas. Einen Schlager summend, in dem es um Liebesschmerz, den damit verbundenen heftigen Wind und grausame Raben ging, trieb er die Hühner auf den Hof. Kaum pickten die hungrigen Viecher nach den Körnern, die er ihnen auf den Boden gestreut hatte, schon wirkte es so, als herrsche um ihn herum so etwas wie Leben. Und doch war er auf einmal recht verstimmt. Warum klopfte ihm sein Großvater nicht auf die rechte Schulter und fragte ihn, wie es mit den Hochzeitsvorbereitungen lief? Interessierte es ihn denn gar nicht mehr, ob Mascha, die junge Braut, sich endlich daran erinnert hatte, dass sie eine gute, orthodoxe Christin hatte werden wollen? - Ein leichtsinniges Versprechen, dass sie dem alten Mann nach zwei Gläsern Wodka eines Abends gemacht hatte, und das die Grundvoraussetzung für dessen Billigung der Vereinigung der beiden darstellte. Diesen Morgen wollte der Großvater mit seinem Enkel nicht über die unbeschreiblich große Liebe, die bis zum Tode hielt, reden. Das betrübte Iwan so sehr, dass seine Worte, die er mechanisch hauchte, nur noch wie ein Mantra klangen: „Es ist alles wie immer."
Als er auf das Feld gehen wollte, um die Kartoffeln aus der Erde zu holen, stieß er auf eine große, laut plappernde Kinderschar, die sich um einen leeren Holzstuhl herum versammelt hatte. „Nicht auch das noch!", dachte Iwan und sah hilflos nach allen Seiten. Aber es war niemand da, der ihm aus seiner Lage hätte helfen können. Jeden Tag las der Großvater mittags allen Kindern des Dorfes ein Märchen vor. So war es immer gewesen, und so würde es immer sein, und selbst der unbedeutende Tod Großvaters durfte daran nichts ändern. Wie eine Marionette, die an unsichtbaren Fäden hing, setzte sich Iwan auf den Holzstuhl, griff nach dem Märchenbuch, das ihm ein kleines schüchternes Mädchen reichte. Seine heftig zitternden Finger trennten mühsam die vergilbten Seiten voneinander und seine flackernden Augen fanden eine passende Stelle, an der seine kraftlose Stimme anfangen konnte, zu erzählen. „In einem Land...in einem Reich...lebten ein alter..."
Iwan schüttelte es, er schlug das Buch zu, bahnte sich seinen Weg durch den Ring der nichts begreifenden Kinder, und lief so schnell ihn seine Beine trugen. Er lief an dem Haus seiner Familie vorbei, das wohl nicht mehr war als ein schäbiges, dem Verfall preisgegebenes Haus mit undichtem Strohdach. Bald lag auch der trostlose Hof hinter ihm mit dem lästigen Vieh, um das er sich nun nie wieder kümmern würde. Mit Siebenmeilenstiefeln durchquerte er sein beschauliches Dörfchen. Nie war es ihm so klein vorgekommen. Nie hatte er eine solche Enge verspürt. Einen Augenblick dachte er an Mascha, die immer noch glaubte, er würde sie bald heiraten. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann musste er sich eingestehen, dass sie wohl nicht mehr war als ein einfältiges Mädchen, das noch nie etwas von der Welt gesehen hatte. Sie war recht hübsch, jetzt noch, hätte ihm viele Kinder beschert und selbstverständlich Arbeit auf dem Hof abgenommen. Aber mit grenzenloser Gewissheit war ihm klar, dass ihm das nicht genügte. Es genügte ihm alles nicht mehr.
Grimmig stand er mit einigen Anderen, die ebenfalls das Weite suchten, an der Bushaltestelle. Iwan sehnte sich danach, einsam zu sein, allein unter Menschen, die ihn nicht kannten und keine Fragen stellten. Er wollte keine Trauer sehen, und fürchtete sich vor dem erstickenden Mitgefühl der Dörfler. Alle würden über Großvater, und zweifellos auch über ihn reden. Sie würden ihn nicht vergessen lassen, niemals. In der Stadt jedoch würde er ein Niemand sein, nur ein Niemand von vielen gesichtslosen Niemanden. Vielleicht würde er irgendwann zurückkehren können. Ist es nicht so, dass man erst, wenn man die Ferne gekostet hat, begreift, wer man ist, und weiß, was es bedeutet, heimzukehren? Wie aus dem Nichts kam der Bus, verschlang ihn, und nahm ihn mit in Richtung Freiheit.
Im Dorf ging das Leben weiter. Ein alter Mann war gestorben. Die Bauersfrauen tuschelten und die Kinder drückten ein paar Tränen. Ansonsten war es eigentlich ein ganz gewöhnlicher Tag.