Mayn Stetl Schargorod
Inna Margoulis
Meine Familie kommt aus Schargorod, einer kleinen Stadt im Süden der Ukraine. Wir besaßen dort ein Haus. Gebaut am Stadtrand war das Haus, seit ich mich erinnern kann, in zwei Hälften aufgeteilt – eine bewohnte, lebendige Hälfte und eine unbewohnte und tote. Sogar die Farben unterschieden sich – die eine Haushälfte war hell und cremefarben und die andere, die tote, eher blau und der Putz blätterte ab. Sowie es zwei Hälften des Hauses gab, gab es auch zwei Gartenhälften. Beide trennte ein Zaun, der im Laufe der Jahre eine Aufwertung von Holz zu Schiefer erfuhr. In einer Gartenhälfte gab es eine Kinderschaukel, einen Sandkasten, Obstbäume, Pflanzen und sogar einen neuen Brunnen, an dem Pfaue gehalten wurden, um wahrscheinlich einen Hauch des, nach der Perestroika etablierten Neuen Russen zu vermitteln. Die andere Hälfte des Hauses behielt den Holzzaun, der Garten wucherte mit Unkraut zu, welches die Größe eines acht-jährigen Kindes hatte. Das Schlafzimmer der Kinder befand sich Wand an Wand an der alten Haushälfte. Da gab es sogar ein Fenster zu den alten, unbewohnten Räumen, denn die neue Haushälfte wurde erst viel später an die alte gebaut. Deswegen war dieses Fenster zugemauert und verdeckt mit einem Wandteppich. Der Teppich war verziert mit einem Baum, dessen Wurzeln ihn umrundeten. Mein Onkel sagte, es sei der Lebensbaum und das Motiv stamme von einem israelischen Künstler aus Safed, den mein Onkel natürlich sehr gut von früher kannte, da dieser Künstler, dessen Name mir leider entfallen ist, auch aus Schargorod stamme. Das sei auch logisch, meinte mein Onkel, denn Schargorod sei ein ehemaliges jüdisches Stetl. Es stimmt. Doch war es wohl nie das jüdische Stetl, welches man aus der Literatur als ein kleines, romantisches, natürlich rein jüdisches Dorf mit nur wenigen Seelen kennt, sondern ein etwas größerer Ort, der nie allein auf das jüdische Leben konzentriert war. Die Romantisierung des Stetls etablierte sich in den Köpfen zu einer recht eigenwilligen Wahrheit, deren eigenen Dunstkreis man verlassen muss, um sie als eine Nicht-Wahrheit entpuppen zu können.
Um zu dem Schlafzimmer der Kinder überhaupt zu gelangen, musstest du als Besucher unseres Hauses in Schargorod drei weitere Durchgangsräume passieren. Doch bevor du zu diesen Zimmern gelangen konntest, standest du im Flur, welcher geradezu auf das Bad zuführt. Das Badezimmer hat sich deswegen so in meine Erinnerung eingebrannt, weil es schief war. Es wurde erst vor einigen Jahrzehnten zusammen mit der Küche an das bestehende Haus angebaut und es musste schnell gehen, so dass auf Unebenheiten keine Rücksicht genommen werden konnte. Manchmal müssen Veränderungen schnell geschehen und sie hinterlassen Spuren, die man sich nicht erklären kann, wenn man sich mit dem eigentlichen Zustandekommen der Dinge nicht beschäftigt. So gab es im Bad auf der linken Seite neben dem Waschbecken auch ein Fenster, welches aber kein Tor nach draußen war, sondern ein kleines Verbindungsstück zu der Veranda, die noch später als das Bad gebaut wurde. Es drang wenig Licht von der verglasten Veranda in das Bad und somit war es stets ein wenig dunkel. Gäbe es nicht die Veranda, so könnte man aus dem Bad direkt auf die ehemalige Synagoge von Schargorod blicken. Diese soll 400 Jahre alt sein, wobei gesagt werden muss, dass die Türken aus ihr eine Moschee machten, die Russen nach der Revolution eine Lagerhalle und letztendlich beschloss man ca. in oder nach den 40er Jahren eine Weinfabrik aus ihr zu machen. Die Mauern stehen heute noch, glaube ich. Die schiefe Lage des Bades erwies sich letztendlich als nützlich, denn es gab Löcher in den Bodenfliesen, die in die Erde führten. Dies war die improvisierte Kanalisation, denn hatte man als Kind übermütig aus der Wanne heraus das ganze Bad geflutet, konnte das Wasser durch diese großen, schwarzen und schmutzigen Löcher abfließen. Skurril waren die bunten und leuchtenden Walt Disney Aufkleber an den Wänden. Es schien, als könnte sich das Badezimmer zwischen dem ukrainisch-dörflichen Verfall vor der Perestroika und den ersten Walt Disney Trickfilmen, die es sogar bis nach Schargorod geschafft haben, nicht entscheiden.
Doch lass uns wieder zurück in den Flur begeben. Geradeaus ging es in das Bad. Zur linken Hand lag die Küche und die neue Veranda und rechter Hand vom Flur aus gesehen, konntest du das Reich der Zimmer betreten, wobei jedes Zimmer als Überraschung das nächste enthielt. Jedes Mal wenn ich eine Matrioschka in der Hand halte, muss ich an diese Zimmer denken, die sich aneinander reihen und man das nächste erst dann entdeckt, wenn man in dem vorhergehenden Zimmer steht.
Das erste Zimmer, welches sich an den Flur anschloss, war recht klein und war eine Mischung aus einem Ort der Erinnerung und dem Spielzimmer der Kinder. Ich kann mir keinen anderen Ort vorstellen, der diese beiden Dinge überhaupt mischen kann. Dort befand sich das Kinderspielzeug, doch haben wir, Kinder, nie da drin gespielt, denn der strenge Blick der Urgroßmutter belegte jedes Spiel mit seiner Schwere. Wie die Urgroßmutter daher kam? Es gab das alte Klavier an der linken Wand am Fenster und über dem Klavier hingen Bilder der Verstorbenen, meiner Urgroßeltern z. B. Nun könnte man denken, sie hätten den Holocaust in der Ukraine nicht überlebt und wären ermordet worden, so wie es in den Geschichtsbüchern immer steht oder sie hätten sich gleich nach dem Krieg den heldenhaften zionistischen Pionieren angeschlossen und wären mit erhobener Faust in Erez Israel einmarschiert, wo sie natürlich auch heldenhaft im Kampf um die Freiheit starben. Aber so war es nicht. Sie starben an Krankheiten, die sie im Alter beschlichen. Viele Juden haben übrigens wie meine Urgroßeltern und meine Großeltern den zweiten Weltkrieg in Schargorod unter rumänischer Besatzung überlebt. Es gab Krankheiten, Hunger, jedoch keine Massenerschießungen oder dergleichen. Das Schargoroder Ghetto beherbergte über 7000 Juden während des zweiten Weltkrieges, die u. a. aus den umherliegenden Gegenden hierher kamen, um zu überleben. Die meisten von ihnen überlebten auch tatsächlich. Heute dagegen finden sich nur wenige Juden im Stetl Schargorod wieder. Es scheint, als habe das Jüdische dort die Juden selbst untergraben und zwar nicht durch den Krieg, sondern durch andere erklärbare Wahrheiten.
Das zweite Zimmer hinter der Wand mit dem Klavier war das Fernseh- und Gästezimmer. Es war groß und voller Licht und aus dem Fenster konntest du auf den Nachbarshof schauen, auf dem es von freilaufenden Hühnern wimmelte. Manche von ihnen schafften es auch auf unser Grundstück. Doch jedes von ihnen wurde für das unerlaubte Betreten des fremden Territoriums von unserer Hündin Linda mit Erwürgen bestraft. Immer wenn das passierte standen unsere Eltern vor der Entscheidung, das tote Huhn zurück an seine Besitzer zu übergeben oder es unauffällig zum Abendbrot zu verspeisen. Unsere Nachbarn kümmerten sich nicht gut um ihr Vieh. Mein Onkel sagte, sie waren Geschäftsleute. Sie arbeiteten für ein Unternehmen, welches Reisen durch die Ukraine organisierte. Das Reiseunternehmen warb, so mein Onkel, für die Reisen in die kleinen Städtchen Padoliens auf der Suche nach jüdischer Vergangenheit – auch Schargorod war dabei. Sogar das deutsche Fernsehen zeigte in den 90er Jahren eine Reportage mit dem Titel: „Kaddisch – die letzten Juden von Schargorod". Kaddisch ist das jüdische Totengebet, welches in unserem Haus schon oft gesprochen wurde, doch meistens in der verfallenen Hälfte, die aus diesem zweiten Zimmer fast zum Greifen nahe war und noch näher kam, sobald du das dritte Zimmer betratst – das Schlafzimmer der Eltern und Übergangszimmer zu dem Schlafzimmer der Kinder. Dafür musstest du die großen hellen Fenster mit dem Ausblick zu den Hühnern des Nachbarn rechts von dir lassen und dich nach links wenden. Das Schlafzimmer der Eltern war etwas dunkler, da es weniger Sonne abbekam und auch die Wandteppiche wechselten hier die Farbe von dem leuchtenden Rot des vorhergehenden Zimmers zu einem etwas matteren Braun. In der linken Ecke des elterlichen Schlafzimmers standen die Betten der Eltern, die sich in unseren Spielen in unbekannte Wälder oder Schlösser verwandeln konnten. In der rechten vorderen Ecke, fast am Fenster stand der alte Kleiderschrank, der neben Kleidern auch andere Generationsschätze verbarg und vor dir befanden sich die Fenster. Mein Onkel sagte immer, dass er aus den Fenstern dieses Schlafzimmers alle Einbrecher schießen könne, die es wagen sollten über den Schieferzaun zu den Pfauen zu klettern, weil sie denken, die Juden haben bestimmt viel Geld, welches man ihnen stehlen könne. Dabei habe er doch sein letztes Geld für die Pfaue ausgegeben, um meiner Tante eine Freude zu machen. Doch das würden die Einbrecher ja nicht wissen. In diesem Zimmer schimpfte mein Onkel oft über die Nachbarn, über Israel, über die übrigen Schargoroder, eben über die Anderen. Doch wenn du genug von diesem Geschimpfe hattest und dich nach rechts wandtest, standest du auch schon wieder im Schlafzimmer der Kinder. Vielleicht befiel dich dann auch, wie uns Kinder, dort der Drang, nach der anderen Hälfte des Hauses zu sehen. Manchmal versuchten wir es auch, indem wir nachts, denn es war natürlich verboten, über den Zaun kletterten, jedoch dann entweder Angst bekamen von unserem Onkel für Einbrecher gehalten und erschossen zu werden oder keine Lücke zum Hineinspähen fanden, und letztendlich zurück durch das Fenster in unsere Betten huschten. Wahrscheinlich war es gut so, denn es ereignete sich das eine oder andere Unglück in der verlassenen Haushälfte und der Tod fiel stets wie ein Schatten durch die Löcher der halb zugenagelten Fenster. Jedoch war unsere tote Haushälfte nicht die einzige Ruine in Schargorod. Entgegengesetzt zu den Anpreisungen der Reiseunternehmen, findet man nicht die Juden in Schargorod, sondern die Überreste ihrer Räume. Enge Gassen und kleine Häuser, die es bis in die Fotobände in Deutschland lebender Künstler geschafft haben. Der alte jüdische Friedhof steht noch, doch niemand weiß wie lange. Es gibt viele Lücken, durch die man in das ehemalige jüdische Leben hineinspähen kann, aber was gibt es dort tatsächlich zu sehen? Jedenfalls keine Juden, denn sie sind weggegangen und haben hier und da Schrift und Steine hinterlassen. Durch die Lücken und mit Fernglas erkennt man eine kleine Stadt, die polnisch, jüdisch, türkisch, rumänisch und ukrainisch war oder auch ist. Im Übrigen bedeutet ‚Schar' aus dem russischen übersetzt, ‚Kugel' oder auch ‚Weltkugel' und ‚Gorod' ist die ‚Stadt'. War Schargorod eine Weltstadt jüdischen Lebens? Oder eine Kugelstadt, die das jüdische Leben einschloss? Ich weiß es nicht. Auch wir leben nicht mehr dort.