Mein Dorf Leipzig
Martin Siegmund
Ich komme vom Dorf. Geboren und aufgewachsen bin ich in Leipzig, Sachsen, Deutschlands kleinster Großstadt, irgendwie, Revolution City. Nein, nein, ich meine nicht den Landkreis Leipziger Land, ich komme nicht aus Markkleeberg, Böhlen, Großpösna oder Zwenkau. Oder Pegau. Oder Groitzsch. Das sind doch keine Dörfer. Mein Dorf liegt in Leipzig, mittendrin, oder vielmehr, am Rand. Im Stadtteil Kleinzschocher, zu Füßen von Leipzig-Grünau, das ist unser Berlin-Marzahn, oder unser Halle-Neustadt. Siebzigerjahre-Setzkastenromantik. Genaugenommen liegt mein Dorf am Rand von Kleinzschocher und wenn es nach den Einwohnern geht, gehörte es sowieso nie dazu. An dieser Stelle ein wenig Dorfgeschichte, das müssen Sie mir so glauben, ein Heimatmuseum haben wir nämlich nicht. Unser Dorf wurde nicht im Mittelalter von Soundso gegründet, der alle anderen Dörfer in Deutschland zu verantworten hat, sondern von Hermann Julius Meyer, ja, genau, der Lexikontyp. Der hatte Ende des 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts dann plötzlich Spaß an Mietwohnungsbau. Mietwohnungsbau für Arbeiter und Angestellte. Da hat er dann auch unser Dorf bauen lassen, Meyersdorf nennen wir es deswegen. Und damit der Arbeiter und der Angestellte nicht an Tristesse krankt, sind alle Häuser so ein bisschen angehundertwassert, sehen alle etwas anders aus. Das hat man Anfang der Siebziger nebenan auch versucht. Hat nicht geklappt. Die Häuser umschließen wie eine Mauer einen Park, der keiner ist. Alles Waldbäume. Die Häuser wurden nur mittenrein und drumherum gebaut. Stellenweise stehen sie eng genug, um sich ein Stück Nichtpark abzuschnüren. Im Zentrum dieser Abschnürung stehen dann Nichtparkbänke und ein Sandkasten. Das ist unser Dorfplatz. Hier wird gegrillt, hier schreien Kinder und werden angeschrien, hier wird getratscht, hier wird gesoffen. Das hab ich dort auch alles gemacht. Und weil der Dorfplatz so schön halbrund von Gebäuden umstanden ist, schallen alles Gelächter und Geschrei und all die Glasflaschen so laut, dass jeder es hören kann. Man fühlt sich geborgen. Auch weil unser Häuserwall alle draußen hält. Die Grünauer, die Kleinzschocherer und die Großzschocheraner. Ja, sie haben Recht, alle hält es nicht draußen. Elias und sein Bruder werden von den Kindern Kongolippe genannt. Ihr Vater ist Afrikaner. Bestimmt hätte ich das als Kind auch gemacht. Aber ich war schon älter, reifer, hatte mich mir schon den Geächtetenstatus verdient, war Elias also geistig verbunden. Rassengrenzen verschwimmen sowieso, wenn der Eismann kommt. Und das Eis schwimmt mit dem Regen in die Gosse, weil die Meyersdorfer Kinder nur pavlovmäßig auf das Klingeln reagieren und eigentlich kein Eis haben wollen. Und überhaupt, die Kinder aus den anderen Abschnürungen, wo die anderen Nichtparkbänke stehen, wo der Sandkasten anders aussieht und wo das einzige Klettergerüst steht, sind sowieso viel schlimmer. Voll dumm sind die da und was die für Eltern haben müssen. Peinlich, wenn man denen im Tante-Emma-Konsum auf der anderen Straßenseite begegnet. Neben dem Friseur und der Ladenfläche, in der ein Bäcker nach dem anderen pleitegeht, sie wissen schon. Gehört eigentlich schon zu Grünau, weiß aber keiner. Irgendwo zwischen unseren Waldbäumen gibt es einen Kindergarten, da sieht man die dann auch, mit ihren peinlichen Kindern. Die Wohnungen sind teuer in Meyersdorf, trotzdem leben dort Asis. Ob ich noch dort wohne? Ich bin in die Stadt gezogen, nach Plagwitz, zwei Haltestellen weiter.