Die verlorenen Dörfer der Johannisburger Heide – eine Fallstudie zur (Re)Konstruktion der regionalen Identität

Magdalena Kardach

 

Die Chronik erzählt nicht von verlorenen Dörfern. Sie liegen an den Seen und Mooren jenes östlichen Landes, mit grauen Dächern und blinden Fenstern, mit alten Ziehbrunnen und ein paar wilden Birnbäumen auf den steinigen Ackerrainen. Der große Wald umschließt sie […]. Sie sind so klein, daß ihre Namen nur auf den Karten verzeichnet sind, die der Soldat im Manöver braucht, und auch dort nicht einmal mit Sicherheit. […] Sie sind wie Gräber aus den Zeiten lang vergessener Kriege, eingesunken, mit verwischter Schrift.

(Ernst Wiechert, Die Jeromin-Kinder. München: Desch 1945.)


Der in Masuren geborene Schriftsteller Ernst Wiechert, der von diesen verlorenen Dörfern schrieb, konnte es nicht wissen, dass sie wirklich bald zu versunkenen Gräbern mit verwischter Schrift werden. Als er in seinem Roman das in der Johannisburger Heide versteckte Dorf Sowiróg (Eulenwinkel) beschrieb, konnte er nicht voraussehen, dass es bald von diesem Dorf nur sein Name bleibt. Er konnte es auch nicht wissen, dass ein ähnliches Schicksal auf viele andere verlorene Dörfer zukommt, so dass nur ihre Namen auf alten, sehr genauen Karten bleiben. Es sind jedenfalls nur „leere Namen“ geblieben, denn die ganzen Dörfer samt allen ihren Gebäuden, Gaststätten, Schulen und Einwohnern hörten auf, zu existieren.

Der erste Band des Romans Die Jeromin-Kinder erschien im Jahre 1945, in jener Zeit, als über das Sowiróg schon der Vernichtungsschatten kreiste. Der zweite Band wurde im Jahre 1947 veröffentlicht, zu jener Zeit, in der die Reste von den Bauernhöfen ausgeraubt wurden. Im Jahre 1949 wurde die Entscheidung von der Verwaltung der Kreisgemeinde Mrągowo (Sensburg) getroffen, „die Reste“ vom Dorf Sowiróg abzutragen, so dass das Ende des Dorfes amtlich besiegelt wurde. Auf diese Art und Weise wurde die Geschichte des Dorfes Sowiróg abgeschlossen. Dieses Dorf wurde hier symbolisch herangezogen, denn dieses Schicksal teilten auch viele andere Dörfer in der Johannisburger Heide.
Heute, wenn man in den Wäldern von Johannisburger Heide spazieren geht, erinnern die Fliedergebüsche oder eine Treppe, die nirgendwohin führt, an die verlorenen Dörfer. Ein einziges greifbares Zeichen des ehemaligen Lebens in der Johannisburger Heide stellen nur kleine, vergessene Friedhöfe dar, die mitten in dem Wald zum Vorschein kommen.
Im Frühling 2009 wurde ein Projekt ins Leben gerufen, dessen Aufgabe darin besteht, die hinterlassenen Spuren von den verlorenen Dörfern der Johannisburger Heide wiederzuentdecken und sie lesbar zu machen. Der Ideengeber die Kulturgemeinschaft „Sadyba”, die sich mit Rettung und Bewahrung von der masurischen Kulturlandschaft beschäftigt hat die Kulturgemeinschaft „Borussia“ aus Olsztyn (Allenstein), sowie das Regionale Zentrum für Denkmalschutz in Ermland und Masuren und das Forstamt in Pisz (Johannisburg) zum Projekt eingeladen. Im August 2009 fand das erste Camp statt, an dem sich junge Menschen aus Deutschland, Polen und Russland beteiligt haben und im Rahmen vom Freiwilligendienst die Spuren von den ersten zwei verlorenen Johannisburger Dörfern lesbar gemacht haben. In den nächsten Jahren wurden und werden immer noch die nächsten Dörfer entdeckt und lesbar gemacht. Es entstehen Informationstafel, neue Dokumentationen, wie auch eine kulturwissenschaftlich orientierte Publikation.
Geht man, Max Weber folgend, davon aus, dass Kultur ein fertiger Ausschnitt einer sinnlosen Unendlichkeit von Vorgängen in der Welt ist, welchen der Mensch versucht, Sinn zu geben, dann kann man das kulturelle Landschaftsbild als eine Reihe von Erscheinungen anthropologischer (kulturelles Gedächtnis, Zeit, Kulturraum), sozialer (Zugehörigkeit zu einer größeren kulturellethnischen Gemeinschaft, definierbar als „Heimat“) und historischer Art begreifen, denen der Mensch eine konkrete Bedeutung verleiht. Zentrales Merkmal, ethnisch-regionale Matrix, um sich mit der Region Ostpreußen zu identifizieren, war und ist immer noch für die heutigen Bewohner von Ermland und Masuren das kulturelle Landschaftsbild.
Die Kulturlandschaft ehemaliges Ostpreußen bildet auf jeden Fall einen weiten und mehrschichtigen Erinnerungsraum. Das kurz angedeutete Beispiel veranschaulicht es, dass es die Literatur ist, die dazu veranlasst hat, die Vorstellungsbilder von Orten zu schaffen, an denen wir selbst nie waren und die es gar nicht mehr gibt. Damit werden eben die Anknüpfungs- und Verbindungslinien zwischen Orten und Menschen in Ost und West geschaffen, was das von Ihnen in Zusammenhang der Konferenz angesprochene Konzept verspricht.

 

Tagung Imaginäre Dörfer | Halle | 05.09 - 07.09.2013