05.-07. Juli 2018

Gutes Leben auf dem Land? Imagination, Projektion, Planung und Gestaltung

 

Interdisziplinäre Tagung in Halle

Plakat

Flyer

 

 

In der jüngeren und jüngsten Vergangenheit lässt sich medienübergreifend und gesamtgesellschaftlich ein gesteigertes Interesse am Land- und Dorfleben feststellen. Bilder guten Lebens auf dem Land haben aktuell wieder Konjunktur und werden erneut mitunter auch massenhaft (re)produziert und rezipiert. In Literaturen und Filmen, Fernsehsendungen und Features, Zeitungen und Magazinen, Blogs und Bildern, Computerspielen und Kunstwerken, politischen Diskussionen und wissenschaftlichen Studien, architektonischen Entwürfen und siedlungsstrukturellen Planungen wird gegenwärtig über den aktuellen Status und die zukünftigen Entwicklungen ländlicher Räume verhandelt. Nicht zuletzt in diesen Zusammenhängen werden dann auch Bilder des Ländlichen erzeugt und angeeignet, die sich auch aus verschiedenen geistes- und kulturgeschichtlichen Traditionen ergeben und jeweils spezifische Funktionen übernehmen.

 

Tatsächlich haben die Imaginationen des guten Lebens auf dem Land eine ebenso lange und ambivalente Geschichte wie auch die Versuche ihrer Realisierung und die darauf bezogene Kritik. In unterschiedlichen historischen Phasen und soziokulturellen Kontexten finden sich in den damit verbundenen Bildern und Narrativen immer auch spezifische Wahrnehmungsweisen und (Wert-)Vorstellungen, die als Ausdruck kultureller wie individueller Selbstverständnisse zu sehen sind und die das Leben in den jeweiligen gesellschaftlichen Räumen nicht nur abbilden, sondern auch konstituieren und ordnen, erhalten oder aber verändern sollen – und dann mitunter auch die ganze Gesellschaft.

 

Dabei stehen Land und Ländlichkeit nicht nur in einem ambivalenten Spannungsverhältnis; vielmehr kann auch die Gegenüberstellung selbst als ebenso fragwürdig wie produktiv gesehen werden. Auf der einen Seite ist es das Land selbst (im Sinne des physischen und von Menschen bewohnten Raums außerhalb der Städte), das in jeweils unterschiedlichen regionalen und lokalen Kontexten und Ausprägungen heterogene Transformationsprozesse durchmacht und an dem sich auch die gegenwärtigen gesellschaftlichen Frage- und Problemstellungen in besonderem Maße ablesen lassen: Klimawandel und erneuerbare Energien, Tierhaltung und Ernährung, Landwirtschaften unter industriellen Bedingungen, Daseinsvorsorge und (Un-)Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen, Unterbringung und Integration von Geflüchteten, antimoderne Stimmungen und Aktionsgruppen, demographische Entwicklungen und Landflucht sowie die divergent verlaufenden Prozesse der Urbanisierung, Suburbanisierung und Postsuburbanisierung sind gegenwärtig nur einige der brisanten Themen, die mit ländlichen Räumen verbunden sind. Dies führt schließlich auch, auf der anderen Seite, zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung der medialen Formen und kulturellen Imaginationen des Ländlichen und der Ländlichkeit (im Sinne der symbolischen Bezugnahmen auf das Land) sowie deren jeweiliger Funktionalisierungen. Die Ausdifferenzierung und Pluralisierung der physischen Grundlagen und Funktionen von ländlichen Räumen und Landschaften – bedingt etwa durch ökonomische Logiken, technische Entwicklungen, politische Entscheidungen, soziale Differenzierungen und auch ästhetisierende Praktiken – geht mit einem immer größer und widersprüchlicher werdenden ‚semantischen Hof‘ gesellschaftlicher Ländlichkeitsvorstellungen einher. Die vertrauten Dualismen (Stadt/Land, Zentrum/Peripherie, Gesellschaft/Gemeinschaft, naturfern/naturnah, urban/rural) erweisen sich als zunehmend unbrauchbar, diese vielfältigen Entwicklungen und Funktionen zu fassen.

 

Zugleich kann aber immer auch noch eine Persistenz und Wiederbelebung der klassischen Bilder und Narrative des Ländlichen beobachtet werden, die sowohl Ausdruck als auch Wirkung der unterschiedlichen Vorstellungen und Denkfiguren des guten Lebens (bzw.: dessen Gegenteil) sind und die nicht zuletzt auch gegenwärtig wieder die individuelle und kollektive Positionierung und Orientierung in bestimmten Räumen und zu bestimmten Räumen beeinflussen. Sie messen dabei das politische und kulturkritische Feld in seiner ganzen Bandbreite aus und formieren erneut Konfliktfelder und Prozesse sozialer Schließungen: Das vermeintlich ‚naturnahe‘ Leben kann einer ‚linken‘ Entfremdungs- und Kapitalismus-Kritik ebenso zur Folie dienen wie einer ‚reaktionären‘ Besinnung auf die Grundlagen eines imaginierten ‚einfachen‘ Lebens unter kulturalistisch Seinesgleichen. Individuelles Wohlergehen in schöner Natur steht dabei neben kommunaler Landbearbeitung und anarchistischen Siedlungsprojekten. Wie schon im 19. Jahrhundert sind diese Bilder eines ‚guten Lebens‘ auf dem Land auch gegenwärtig vor allem medial vermittelt.

 

Häufig geschieht dies durch eine Funktionalisierung des Ländlichen als Kontrastfolie; und zwar trotz der nicht erst aktuell zu verzeichnenden vielfachen Überschneidung und Verschränkung ruraler und urbaner Lebensstile und Raumstrukturen sowie entgegen der Tendenzen wissenschaftlicher wie auch lebensweltlicher Nivellierung der Gegensätzlichkeit von Stadt und Land, wie sie bspw. in der Forschung ebenso wie in der Landschaftsplanung unter dem Stichwort der ‚rurbanen Landschaften‘ diskutiert werden. Erscheinen ländliche und dörfliche Lebenswelten im Selbstverständnis ihrer Bewohner ebenso wie in öffentlichen Diskursen im Zeitalter der Industrialisierung, Urbanisierung und Digitalisierung noch immer als ‚defizitäre‘ und ‚abgehängte‘ Räume, so finden unter den Bedingungen einer zunehmenden Beschleunigung und Fragmentierung moderner Lebenswelten gerade auch die idyllisierenden und romantisierenden Bilder des Ländlichen, die als Widerpart fungieren und positiv konnotierte Gegenwelten aufbauen bzw. versprechen, verstärkt Zuspruch. Vor dem Hintergrund fortgeschrittener und auch weiterhin fortschreitender moderner Gesellschaften bildet die Orientierung an und Bezugnahme auf ländliche und dörfliche Räume und Gesellschaftsformen offensichtlich immer noch ein Imaginations- und Aktionsfeld, auf das sich politische, gesellschaftliche und kulturelle Akteure in unterschiedlichen Kontexten und mit jeweils spezifisch ideologischen Ausrichtungen und Zielsetzungen bis in die Gegenwart hinein – historisch gesehen in verschiedenen konjunkturellen Phasen – immer wieder bezogen haben und wohl auch weiterhin beziehen werden: Sei es zum Beispiel als Gegenentwurf und Kritikansatz zu einer durch Abstraktion, Entmündigung und Bürokratisierung gekennzeichneten bzw. wahrgenommenen politischen und verwaltungstechnischen Praxis nationaler und transnationaler Organisationsformen oder aber als konkreter Einsatzpunkt für ein alternatives zivilgesellschaftliches oder privates Handeln und Gestalten im lokalen Kontext. Aus solchen Perspektiven erscheinen ländliche Räume dann nicht bloß als unterstützungs-bedürftige Peripherien oder abseitige Residualräume, sondern auch als modellhafte und modellbildende Experimen¬tierfelder innovativer – mitunter auch anti-moderner – Kräfte, auf denen sich neue Formen sozialer Bindung sowie alternative und nachhaltige Lebens-, Wirtschafts- und Beteiligungsformen herausbilden können, die wiederum (unter anderem) mit spezifischen Vorstellungen der Bebauung und Infrastruktur sowie des Wohnens und Arbeitens verbunden sind – und zwar auch abseits der gängigen Dualisierungen und in Verschränkung urbaner und ruraler Bilder und Praktiken.

 

Die Imaginationen und Narrative des Ländlichen und Dörflichen werden somit in vielfacher und komplexer Weise zu Projektionsflächen und Verhandlungsräumen – aber auch Konfliktfeldern – gesellschaftlicher Erfahrungen und Wahrnehmungen, Ängste und Wünsche, die in Abgrenzung zu vorhergehenden, in Auseinandersetzung mit aktuellen und in Antizipation zukünftiger Entwicklungen sowohl kompensatorische als auch reflexive und handlungsleitende Funktionen ausüben können und dabei Orientierungsmarken und Impulse eines ‚guten‘ bzw. ‚gelingenden‘ Lebens bieten – sei es im Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen oder zur Natur. Sie können so zu Modi der Aneignung und Umgestaltung konkreter gesellschaftlicher Räume werden; wobei gerade die erneute Ambivalenz der Bilder und Bezüge auch deren gesellschaftliche Relevanz bezeugt und ausmacht.

 

Die Tagung möchte die damit verbundenen Themenspektren und Fragestellungen aus verschiedenen disziplinären Perspektiven betrachten und diese miteinander ins Gespräch bringen. Sie zielt dabei auf eine Bestandsaufnahme, Ausdifferenzierung und Analyse aktueller und historischer Raumbilder, Denkformen und Lebenspraktiken, die mit den ebenso ambivalenten wie signifikanten Imaginationen eines guten Lebens auf dem Land verbunden sind und sich (mitunter) auf die konkrete Planung und Gestaltung sozialer Räume auswirken. Dabei will sie auch an einer erweiterten Perspektive auf die Wechselbeziehungen von materiellen Entwicklungen (Dinge, Medien, Architekturen), sozialen Verhaltensweisen (Siedeln, Wohnen, Arbeit, Freizeit, Mobilität) und narrativen Diskursen (Stadtkritik, Dorfflucht, Idyllik, Infrastrukturförderung, Forschung) arbeiten.

 

Dabei stellen sich unter anderem folgende Forschungsfragen:

 

In welchen historischen und soziokulturellen Kontexten haben Imaginationen und Narrative des guten ländlichen Lebens Konjunktur und in welchen Traditionslinien stehen sie?

 

Welche Auskunft geben sie über die Wahrnehmung des jeweils zeitgenössischen Lebens in Stadt/Land/Zwischenstadt und welche Vorstellungen der Zukunft und/oder Vergangenheit entwickeln sie?

 

In welcher spezifischen Weise werden Imaginationen des guten ländlichen Lebens erzeugt und rezipiert und wie bzw. wodurch sollen sie Geltung erhalten?

 

Welche speziellen Orte (etwa Haus, Hof, Garten, Dorf, Acker, Wald) werden dabei fokussiert und in welcher Weise werden sie von anderen Orten abgegrenzt?

 

Welche Modelle eines gelingenden Zusammenlebens oder adäquater Mensch-Natur-Verhältnisse werden dabei entworfen und worin finden sie ihre (etwa anthropologische, soziologische oder metaphysische) Basis?

 

Hat die Anti-Moderne, soweit sie sich auf ländliche Räume bezieht bzw. auf diese stützt, eine Zukunft; und wenn ja, welche?

 

Wie wirken sich die jeweiligen Bilder auf die – sei es individuelle, sei es soziale – Gestaltung und Planung der Gegenwart und Zukunft aus?

 

Welche Verschränkungen lassen sich dabei zwischen (künstlerischer/medialer) Imagination und (konkret verortbarer) Lebenswelt und Lebensführung beobachten?

 

Diese und andere Fragen können anhand der verschiedenen historischen und aktuellen Repräsentationen und Imaginationen des Ländlichen und Dörflichen in Literaturen und Künsten, Filmen und Fotografien, Philosophien und Popkulturen, Architekturen und Entwürfen, wissenschaftlichen Analysen und politischen Debatten sowie schließlich auch seinen konkreten Formen und Gestalten in der Realität aus literatur-, film- und medienwissenschaftlichen, soziologischen, ethnologischen und geographischen sowie historischen und (landschafts-)architektonischen Perspektiven erörtert werden.