Das anvisierte Projekt untersucht die Dorfnarrative in der belarussischen Gegenwartsliteratur. Das Dorf als Imaginationsraum stellt eine wichtige Dimension kultureller bzw. literarischer Fremd- und Eigen-Figurationen in allen ostmitteleuropäischen Ländern dar. Für die belarussische Kultur kommt jedoch den Dorf-Narrativen eine besondere Rolle zu. Das Dorf – so die Ausgangshypothese und Leitfrage des vorliegenden Projekts – avancierte zum relevantesten Chronotopos und geopoetischen Inbegriff belarussischer Identitätsverhandlungen. Dies hat zum einen kulturhistorische Gründe: Die Selbstbehauptung der belarussischen Kultur, Sprache und Literatur findet erst Mitte des 19. Jahrhunderts statt. Im ersten, primär literatur und kulturhistorischen Teil der Arbeit soll an paradigmatischen Dorf-Texten des 19. und 20. Jahrhunderts exemplarisch untersucht werden, welche Figurationen und Konnotationen des belarussischen Dorfes an der Kreuzung polnischer und russischer bzw. sowjetischer Dorf- und Belarusdiskurse entstehen und sich in Wechselreaktionen und Relationen zwischen den drei Literaturen transformieren.


Die belarussische Literatur der 1990er und 2000er Jahre entwickelt sich zum einen in der Situation der staatlichen Unabhängigkeit des Landes, zum anderen jedoch auch unter der Diktatur von Alexander Lukašenka. Die von den staatlichen Subventionen existierende „offizielle Literatur“ reproduziert weiter Klischees der spätsowjetischen sozrealistischen Belarus-als-Dorf-Beschreibungen. Die unabhängige belarussische Prosa versucht dagegen aus dem ihr tautologisch scheinenden Dorf-Identitätsparadigma auszubrechen. Im zweiten Teil – dem Hauptteil – der Arbeit sollen die Verhandlungen der Dorf-Topoi in den aktuellen belarussischen Dorf-Diskursen von den Spannungen zwischen Stadt und Dorftexten über die phantasmatische Karnevalisierungen der Dorf-Bilder bis zur sprachkulturellen Identitätsproblematik des Belarussischen als Elitär-Dörflichen erforscht werden.

 

Yaraslava Ananka, M.A. (Potsdam)